Kastanienglück muss sein

An einem sonnigen, milden Herbstmorgen im Engadin. Tags zuvor traf Rolf in La Punt ein. Endlich. Ferien. Heute früh ist er zusammen mit Lisa, seiner Frau, im Auto unterwegs ins Bergell für eine „Caminä e mangä“, einer kulinarischen Wanderung durch die Kastanienwälder in den Hügeln von Castasegna und Brentan an der italienischen Grenze. Im Vorjahr war Rolf das erste Mal im Bergell. Das Tal faszinierte ihn so sehr, dass er unbedingt wieder hinfahren wollte. Und jetzt in der Kastanienzeit ist es der perfekte Zeitpunkt, zudem der erste Ferientag. Alles ist stimmig und er freut sich schon auf die gebratenen Kastanien. Schon diese Vorstellung lässt deren Geruch in seine Nase steigen.. .. Glück hat er auch gehabt mit der Reservierung eines Tisches zu einer Kastanien-Tavolata in Maloja nächste Woche mit einer bekannten Tessiner-Köchin. Lisa ahnt davon noch nichts, doch er weiss, dass sie ausflippen wird, weil sie diese Köchin schon lange live kennenlernen wollte.

Kastanienglück!

Doch dann wird seine Vorfreude schlagartig gedämpft. „Oh, nein!“ Ärger steigt hoch und es wird ihm ganz heiss. Schweiss bricht aus seinen Poren, als es ihm einfällt und er herausplatzt: „Ich habe meine Wanderschuhe vergessen!“ Seine Hände krampfen sich um das Lenkrad, seine Augen blicken starr gerade aus.

„Oh, nein!“, ruft Lisa und langt sich an den Kopf, „das darf jetzt nicht wahr sein, oder?“ Gerade sind sie unter dem Bahnviadukt in Celerina durchgefahren.

Rolf fährt um den nächsten Kreisel herum und zurück nach La Punt: „Ich muss sie holen. Ganz einfach!“

„Wir kommen zu spät, dann können wir die Führung vergessen!“, sagt Lisa verzweifelt.

„Wenn wir den Kaffee-Halt streichen, schaffen wir es!“, sagt Rolf und eine Stunde später fährt er wieder unter dem Bahnviadukt durch … jetzt aber weiter durch St. Moritz, vorbei an den Seen von Silvaplana und Sils, deren grüne Wasser wie Smaragde in der Sonne funkeln. Dann erreicht er den Malojapass und kurvt die schwindelerregende Serpentinenstrasse hinunter nach Casaccia. Im Bergell angekommen, fährt Rolf in heiterer Stimmung auf der einzigen Strasse durch das herbstlich gefärbte, enge Tal weiter, das beidseitig von einer fast senkrecht ansteigenden Bergkulisse dominiert wird. Er weiss nicht, was noch auf ihn zukommt, bevor er sich wirklich auf das freuen kann, was er vorhat. Sie nähern sich dem Ort Stampa, als Rolf von einer Polizeipatrouille auf den Parkplatz vor dem Kulturzentrum hinaus gewunken wird. „Was will der denn von mir?“, fragt er mit Ärger in der Stimme. Ein Polizist nähert sich dem Auto, Rolf drückt auf den Knopf, um die Fensterscheibe zu öffnen und schaut dem Polizist lächelnd entgegen.

„Buongiorno Signore, bitte Ihren Fahrausweis“, verlangt der Polizist höflich, aber in einem Kauderwelsch von Italienisch und Schweizer Deutsch.

„Ja, klar!“, und langt an seine Gesässtasche, um sein Portemonnaie hervorzuholen. Er wird still. Sehr still. Schaut Lisa mit grossen Augen an. Sein nach hinten gekämmtes Haar fällt ihm jetzt über die Stirn. Sein Mund presst sich zusammen. „Wo ist mein Portemonnaie?“, stammelt er.

„Sag jetzt nicht, dass du es auch vergessen hast“, stöhnt Lisa. Rolf ohne Portemonnaie in der Tasche ist unvorstellbar. „Ohne Portemonnaie bin ich nicht angezogen“, seine typische Rede. Lisa öffnet das Handschuhfach, da liegt aber kein Portemonnaie.

Der Polizist steht da und wartet.

Rolf steigt aus dem Auto, ohne diesen anzusehen und öffnet die hintere Wagentür, wo Rucksack und Jacke liegen. Sämtliche Taschen seines Rucksackes wie auch der Jacke kehrt er mit fahrigen Händen um. Der Polizist wartet. „Nicht mein Tag heute!“, sagt Rolf zu sich während er noch wühlt. Seine Gesichtshaut rötet sich und er schwitzt: „Das ist mir jetzt noch nie passiert!“ Er gibt die Suche auf, dreht sich zum Polizisten und gesteht: „Ich habe mein Portemonnaie vergessen und mein Fahrzeugausweis steckt da drin.“

„Äh, Signore, Sie wissen schon, dass Schwarz fahren ist verboten? Dann ich brauche Ihre ID-Karte und muss eine Busse machen“, teilt er Rolf mit.

„Ja, schon, aber wir sind seit gestern in den Ferien und …“ redet Rolf weiter und bleibt dann still. Es hat keinen Sinn. Er senkt den Kopf, es ist, wie es ist.

„Wohin Sie gehen?“, fragt der Polizist, während er Rolfs Personalausweis auf seinem Handy einscannt und seine Aussagen in der Zentrale überprüft.

„Wir sind auf dem Weg nach Castasegna zum Kastanienfest“, antwortet Rolf bedrückt.

„Äh, nach Castasegna? Sie gehen zu Caminä e mangä?“

„Ja, das haben wir eigentlich vor.“

Der Polizist schaut von seinem Handy auf und Rolf direkt in die Augen. „Sie haben eine gültige Führerschein, e bene  … Dann Sie gehen zu Giorgio, der die Führung heute macht in Castasegna mit den Leuten. Er ist mein Bruder, wissen Sie! … Hat grossen Kastanienhain und vermietet Ferienwohnung … Hat Ihre Frau einen Führerausweis?“

„Ja“, sagt Rolf verdutzt. Was kommt jetzt noch? Der Polizist schaut zu Lisa runter ins Auto: „Kann ich Ihre Fahrausweis sehen, Signora?“ Lisa streckt ihm ihren Fahrausweis entgegen. Der Polizist kontrolliert und gibt ihn zurück.

„Also gut Signore, ich lasse Sie fahren. Keine Busse … Sie sagen meinem Bruder einen Gruss von Luigi … Arrividerci!“ Der Polizist tippt mit den Fingern an seine Mütze, steht auf die Strasse und winkt den nächsten Wagen auf den Parkplatz.

Rolf und Lisa schauen dem Polizisten sprachlos nach. Rolf’s schlechtes Gewissen fällt in sich zusammen, wie ein Ballon, dem die Luft entweicht. Er atmet wieder frei: „Puuhhh, manchmal gibt es Polizisten, die sind noch Menschen. Darüber bin ich richtig froh … Jetzt können die Ferien ja endlich anfangen“, witzelt er auch schon wieder. Sie tauschen ihre Plätze im Auto und Lisa fährt rasch los. Es ist knapp.

Kastanienglück?

„Weisst du, wie hoch die Busse gewesen wäre?“ fragt Lisa auf einmal.

«Ich glaub vierzig Franken, weil ich einen gültigen Ausweis habe … bin aber nicht sicher. Wieso?»

«Tja, ich habe da so eine Idee.» …

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