An einem Donnerstag im November verlässt Feddersen sein Büro pünktlich um 17.30 Uhr. Der Pförtner in der Empfangshalle sagt: „Pünktlich wie immer, Herr Feddersen.“
„Stimmt genau“, antwortet Feddersen. „Auf Wiedersehen.“
Nachdem er die üblichen drei Minuten an der Haltestelle gewartet hat, steigt Feddersen in einen Bus der Linie 60. Dabei spricht er ein paar Worte mit dem Busfahrer Willy Otremba. Der fährt schon immer diesen Bus. „Schöner Abend heute“, sagt Feddersen.
„Soll aber noch regnen“, gibt Otremba zurück.
„Dabei hatten wir doch in letzter Zeit eine ganze Menge Regen“, sagt Feddersen etwas wirsch.
„Da haben Sie Recht.“
Freundlich nickend geht Feddersen weiter und setzt sich auf den gleichen Platz wie jeden Abend. Heute nervt ihn die Aussage des Busfahrers. „Immer diese Negativ-Spirale. Sieht nur den Regen statt der Sonne“, denkt er und wirft ihm einen vernichtenden Blick zu. Otremba steckt in seinem Leben fest, findet Feddersen und er hat sich schon so oft gefragt, warum dieser nicht mehr aus seinem Leben machte. Er tut es nicht, obwohl es nichts gibt, was ihn hindert. So gut kennt er den Busfahrer inzwischen. Und das ärgert Feddersen. Er konnte Otremba nicht ändern. Soll dieser doch sein Leben lang Busfahrer bleiben. So lässt er den Ärger fahren und liest seine Zeitung. Dabei fällt ihm eine kleine Annonce auf: „Posada in Uruguay zu verkaufen. Interessenten melden sich …“ Der Bus kommt bei seiner Haltestelle an. Er steigt aus und geht den gewohnten Weg: erst die Goethe-Strasse entlang, dann links die Nord-Allee und nochmals links in die Lindenstrasse bis zu seinem Haus, Lindenstrasse 22.
Wie gewöhnlich macht er sich etwas zu essen. Heute gibt es gebratenes Lammfleisch mit Zucchini. Ein Gericht, das er einmal in einer griechischen Familien-Taverna gegessen hatte. Er bat um das Rezept und nach einigen Runden Metaxa erhielt er es auch. Er liebt die einfachen und doch so schmackhaften Gerichte. Die kleine Anzeige geistert durch seinen Kopf. Posada. Südamerika. Sonne. Leben. Tanzen. Musik. Es lässt ihn an nichts mehr anderes denken. Nach dem Essen wäscht er ab, räumt auf und geht ins Wohnzimmer, wo er den Fernseher einschaltet und etwas Wein trinkt. Heute läuft die Sendung „Auswandern im Rückblick.“ Etwas in ihm klickt laut und deutlich. Von den drei Auswanderern, die ihr Projekt vorstellen, bricht einer ab. Der Liebe wegen wanderte der aus und kaufte ein kleines Hotel, das sie gemeinsam bewirtschaften wollten. Die Liebe zerbrach. Allein will er nicht in Südamerika bleiben und nach Hause zurückkehren. Feddersen schaut zu, wie der Mann das Schild „Se vende“ an das Eingangstor klebt.
Um 23.00 Uhr macht Feddersen regelmässig den Fernseher aus und legt sich schlafen. Nicht heute! Etwas hat sich geändert. Er macht zwar den Fernseher aus und holt sich aber die Flasche Wein aus der Küche, die er heute geöffnet hat, und setzt sich wieder aufs Sofa. Schenkt sich Wein ein. Nimmt einen Schluck.
Er sitzt da.
Sein bisheriges Leben läuft im Zeitlupentempo vor seinem inneren Auge ab. Immer das gleiche. Jeden Tag. Und zweimal Ferien im Jahr, in denen er intensiv südliches Lebensflair lebte und hoffte, es würde bis zum nächsten Mal reichen. Doch er fand sich stets wieder in dieser Spirale des wohl geordneten Lebens, in dem der Blick eher auf den Regen statt der Sonne gerichtet wird. Und das ärgert ihn gewaltig. Otremba’s Negativität zeigt ihm deutlich auf, worauf es hinausläuft, wenn er genau so weiter macht wie bisher. «Aus diesem Kreislauf ausbrechen und mehr aus meinem Leben machen!» Jetzt ist er Otremba dankbar. In ihm sieht er, was er selbst zu tun hat. Bisher wusste er nie die Lösung, wie er das ändern könnte. Später holt er sich den Atlas und schlägt die Seiten von Südamerika auf, sucht das Land Uruguay. Er schlürft einen weiteren Schluck Wein, lässt diesen im Gaumen kreisen, schmeckt das Tannin, schluckt und wartet auf den Abgang: „Eindeutig zu wenig Sonne.“
Auf dem Tisch liegt die Zeitung mit der Annonce. Aus der Sendung weiss er, dass es sich genau um dieses Hotel handelt, der Besitzer ist ein Landsmann. Feddersen sollte jetzt längst schlafen. Doch er ist hellwach. „Was, wenn ich morgen nicht arbeiten gehe? Wenn ich mir einfach frei nehme?“ Der Pförtner würde ungläubig dastehen. Der Busfahrer ungeduldig auf die Uhr schauen, den Kopf schütteln und warten, bis er nicht mehr kann. „Ja, der – der sieht sowieso nur den Regen.“
„Uruguay“, spricht Feddersen laut aus und lauscht auf den Klang. Er geht zum Garderobenspiegel in der Diele und schaut sich von oben bis unten an. Er sieht das bleiche Gesicht. Die immer gleiche Bekleidung: hellblaues Hemd, dunkle Hose, schwarze Schuhe. „Eindeutig zu wenig Sonne.“, beurteilt er das Bild. „Du bist der langweiligste Typ, der mir je begegnet ist“, spricht er zu dem Mann im Spiegel. Was würde diesen attraktiver machen? „Uruguay“, sagt er. „Ein Leben an der Sonne“. „Eindeutig mehr Teint.“ Er wusste, dass er es anders machen konnte. Was war mit ihm auf einmal los? Er kehrt zurück ins Wohnzimmer, setzt sich wieder aufs Sofa, nimmt einen weiteren Schluck Wein. Er trinkt weiter und lässt die Gedanken laufen. Er merkt nicht, wie die Zeit vergeht. Die Flasche auf dem Beistelltisch ist inzwischen leer. Dann geht ein Ruck durch seinen Körper und er sieht auf die Uhr. Zwei Uhr morgens. Er steht auf, holt seinen Laptop aus der Schublade, den er vor drei Jahren gekauft hat und nur verwendet, um seine Ferienziele zu bestimmen. Er ruft die Seite von Booking.com auf und bucht einen Flug nach Montevideo. Für diesen Nachmittag. Er holt die Zeitung mit der Annonce, entnimmt dieser die E-Mail-Adresse und schreibt ein paar Zeilen, gibt seine Ankunftszeit bekannt und dass er interessiert sei, direkt vor Ort über einen Kauf des Hotels zu sprechen. Er drückt auf Senden. Ein Glücksgefühl in seiner Brust lässt ihn schmunzeln. Dann schreibt er eine Nachricht an seinen Chef und teilt diesem mit, dass er spontan verreise, seine Ferien beziehe und deshalb am Morgen nicht zur Arbeit erscheine.
Dann macht er den Laptop aus und legt sich schlafen …