Wie der Grossvater – so der Enkel

Karl Hackett schliesst schmunzelnd die Tür zu seinem Grafikbüro auf und tritt ein, hängt seine Jacke an die Garderobe, wirft den Schlüssel auf den Schreibtisch, öffnet eines der grossen Fenster und streckt sich. Es ist Montagmorgen, und er denkt an Jessica. Zusammen haben sie am Wochenende ihre Hochzeitsplanung vorangetrieben. Wie immer, wenn er an sie denkt, wird ihm warm ums Herz und er erinnert sich daran, wie sie ihm vor einem Jahr das erste Mal in London über den Weg gelaufen ist. Seitdem fliegen bei ihm nur noch Schmetterlinge im Bauch herum. Und jetzt wird sie seine Frau …  

Er dreht sich um und setzt sich an seinen Arbeitstisch. Im Büro sieht es aus wie immer. Aber seine Stimmung wechselt abrupt. Er presst die Lippen aufeinander. Hackett steht massiv unter Druck und das Wasser steht ihm bis zum Hals. Heute erfährt er, ob er den Grossauftrag für die Firma in Marlow erhält. Auf diesen Auftrag ist er dringend angewiesen.

Diesmal wird es klappen, denkt er, und mit der Anzahlung kann ich die Bank beruhigen, das entspannt die finanzielle Lage etwas.  Aber er ist hin und hergerissen zwischen Zuversicht und Zweifel, und die Tischplatte muss das jetzt ausbaden, weil er so angespannt ist, dass er mit dem Kugelschreiber auf die Tischplatte klopft.

Er beantwortet die eingegangenen Anrufe und dazwischen schaut er in seinem E-Mail-Postfach nach neuen Aufträgen. Nichts. Alle paar Minuten schaut er auf seine Uhr. Als es endlich zehn Uhr ist, läuft er zum Briefkasten und holt seine Post. Die übliche Werbung ist da drin und ein grosser Umschlag. Sein Puls steigt und er läuft rasch zurück an seinen Schreibtisch, um den Umschlag noch im Stehen zu öffnen. Im Umschlag findet er die eingereichten Bewerbungsunterlagen … und weiss Bescheid … er steht da, mit hängenden Schultern. Hätte er den Auftrag bekommen, wären die Unterlagen beim Auftraggeber geblieben.

Hackett nimmt den Brief in die Hände, stellt sich ans grosse Fenster und liest ihn. Wieder hat er einen Auftrag verloren! Und wieder hat ein Konkurrent den Auftrag erhalten, weil seine, Hackett’s Arbeit etwas teurer gewesen wäre. Es ist immer das Gleiche. Sie nehmen den billigsten Anbieter, denken aber nicht daran, dass der bei der Qualität einspart und dann Nacharbeiten gemacht werden muss und das schlussendlich teurer kommt als er, Hackett, offeriert hat. Der Brief ist eine Standardabsage und gerade gut genug, zerknüllt zu werden. Verärgert wirft er den Papierknäuel weg.

Er ist wütend, deshalb tigert er in seinem Büro herum, gibt seinem Abfallkübel einen mächtigen Tritt, der scheppernd über den Boden rollt und das ganze Papier aus dem Kübel verteilt sich auf dem Boden. Nun muss er wieder staubsaugen. Er stemmt seine Arme in die Hüften: Warum, Warum, fragt er sich eins ums andere Mal, und findet keine Antwort.
Er geht zurück zum Fenster und blickt ausdruckslos ins Leere. Dafür rattert sein Gedankenkarussell: Ich stehe vor dem Ruin und muss jetzt Insolvenz anmelden. Und wie erkläre ich das Jessica und meinen Eltern? Ich bin jetzt 37-Jährig und verdammt, so viele Jahre habe ich hart gearbeitet und ende mit diesen ganzen Schulden. Er kann sich nicht erklären wie das so weit gekommen ist und wie das passieren konnte. Und dann ist Jessica in sein Leben gekommen, die ihm wichtiger geworden ist, als die Arbeit. Die Schwierigkeiten haben jedoch nichts mit ihr zu tun. Aber von da an gingen die Aufträge zurück und auf einmal waren da viel mehr Konkurrenten. In seiner Vorstellung ist es nur eine Phase gewesen, bis sich der Markt wieder eingespielt hat. Und jetzt – in einem Monat heiratet er. Wie soll das funktionieren? Ein bankrottes Grafikbüro als Basis für das gemeinsame Leben? Und wie soll das funktionieren, ohne, dass diese Katastrophe jemand mitbekommt? Das alles wird ihm kein Mensch glauben …

Er ist verzweifelt und hat Angst, alle zu enttäuschen. Er hört nicht die Vögel zwitschern, sieht nicht den blauen Himmel und die sich herbstlich färbenden Bäume im Park. Er seufzt und fragt sich, wie andere sich in dieser Situation entscheiden. Ob sie pokern gehen oder ganz einfach aufgeben. Pokern! In der Schule und bis nach dem Studium hat er mit Freunden gepokert und immer gewonnen. Jetzt fragt er sich, ob er versuchen soll in das alte Casino zu gehen und beim Pokern zu gewinnen. So wie früher. Es wäre die letzte Chance, das Geschäft zu retten und dann könnte er in einem Monat Jessica heiraten und das Grafikbüro stünde finanziell gut da. Es ist ein schöner Gedanke, den er gleich wieder verwirft, denn er kann kein Geld mehr vom Konto holen. Das ist vorbei. Woher sollte er das Geld für den Einsatz auch nehmen? … Och, Hackett hält es im Büro nicht mehr aus und rennt aus dem Büro, läuft in den Park nebenan und setzt sich auf eine Bank, stützt die Ellenbogen auf seine Knie ab und legt den Kopf in die Hände. Er muss das alles neu denken.

Nach einer Weile atmet er tief durch, steht auf und holt sein Handy aus der Tasche … er hat entschieden und dann ruft er entschlossen Jack an, einen seiner alten Pokerfreunde. Ab und zu trinken sie ein Guiness zusammen und lachen oft über alte Zeiten. Jack meldet sich nach einigem Klingeln.

Hallo Jack, Karl hier, wie geht es dir alter Kumpel, sagt Hackett. Wie immer fachsimpeln sie ein wenig, dann fragt Karl ihn, ob er Lust habe, sich heute mit ihm zum Lunch zu treffen, er müsse etwas Wichtiges mit ihm besprechen. So um 12.30 Uhr im Pub am Bahnhof von Slough? Karl ist erleichtert, als Jack zusagt. Fein, ich freue mich auf dich, bis später …

Karl ist zu ungeduldig, um ins Büro zurück zu gehen und verbringt die Zeit bis zum Mittag im Park, und als es Zeit wird, geht er zum Pub am Bahnhof. Er hat Angst, dass Jack nicht glauben wird, in welch beschissener Situation er ist. Der erscheint pünktlich, setzt sich zu Karl und sie reden von London. Karl redet ständig davon, wie gut er im Pokern war.

Also, Karl, warum redest du dauernd vom Pokern. Was stimmt nicht bei dir? Und dann erzählt Karl ihm von seiner Geschäftsmisere und dass er bankrott ist und seine Hilfe braucht.

Wie kann ich dir denn helfen, fragt Jack erstaunt. Und Karl sagt, er will nach London fahren und er bittet ihn, ihm für zwei Tage 10’000 Pfund zu borgen. Er will noch einmal auf seine Pokerkünste setzen und es ist seine letzte Chance.

Jack ruft aus, bist du verrückt geworden und weisst du, wie viel Geld das ist? Was tust du, wenn du alles verlierst?  

Karl sagt, das wird nicht passieren, und fährt fort, ihn von seiner Idee zu überzeugen. Nach dem Lunch ist Jack soweit und borgt Karl das Geld, stellt ihm einen Check aus.

Karl Hackett fährt noch am gleichen Abend nach London, in das alte Casino am Piccadilly Circus, wo sie früher oft verkehrten. Jessica wird nichts erfahren, sie ist für einige Tage zu ihrer Mutter nach Cornwall gefahren …

Als Hackett in dem Casino ankommt, erwartet er, dass sich in den letzten Jahren einiges verändert hat. Doch in dem Casino hat sich gar nichts verändert. Er findet schnell wieder den Weg nach hinten in den Poker-Raum, als wäre er erst gestern hier gewesen. Das Spiel fängt rasch an. Das Poker-Glück lässt ihn erst im Stich und er verliert eine grosse Summe Geld, er holt aber wieder auf und das lässt ihn hoffen, er zockt weiter. Er zockt die ganze Nacht durch und hofft. Hofft. Doch am frühen Morgen dreht sich seine Glückssträhne gegen ihn und er verliert auf einen Schlag alles. Es ist wie ein Paukenschlag. Hackett verlässt schockiert, verzweifelt und hoffnungslos das Casino.

Es ist früher Morgen und er nimmt den Weg zur Paddington-Station unter die Füsse. Er muss einen klaren Kopf bekommen, weil er das Gefühl hat, an einer Mauer zu stehen, wo es keinen Weg nach nirgendwohin mehr gibt. Er läuft schwankend vorbei am Hyde-Park, wo er Jessica den Heiratsantrag gemacht hat. Es kommt ihm vor, als wäre das in einer anderen Zeit, in einem anderen Leben gewesen. Alles ein schöner Traum. Jetzt ist er müde und würde am liebsten verschwinden. Ja, verschwinden. Verschwinden und wenn er nicht mehr da ist sind alle Probleme erledigt.

Hackett erwischt nur knapp den 8.06 Uhr Regionalzug nach Slough, setzt sich völlig zerschlagen in eines der Abteile und schaut mit leerem Blick nach draussen. Ein anderer Mann setzt sich ihm gegenüber, der ihm bekannt vorkommt. Etwas an ihm ist sonderbar. Hackett sieht ihn an, beobachtet ihn und kann sich keinen Reim darauf machen. Der Mann nimmt die Zeitung auf und liest. Niemand redet. Jeder ist mit sich beschäftigt. Wie immer im Zug. Man trinkt Kaffee und liest die Zeitung. Hackett schüttelt den Kopf, wie um seine Gedanken abzuschütteln. Der Zug nimmt Fahrt auf und bald wird er zuhause sein. Er fragt sich, was dann? Sein Kopf ist leer und er schaut wieder zum Fenster hinaus und gleichzeitig behält er den anderen Mann im Blickfeld. Es ist eines dieser Tage, an denen die Landschaft so schön aussieht. Doch Hackett sieht das heute nicht. Auf einmal erschrickt und zuckt er zusammen, weil es draussen einen lauten Knall gibt. Er merkt, wie der Waggon sich um die eigene Achse dreht und begreift aber überhaupt nicht, was genau geschieht. Aber der Zug steht nicht mehr auf den Gleisen. Er sieht noch, wie ein riesiger Feuerball die Waggons erfasst und wird von der Wucht auf den Boden geschleudert. Es wird schwarz vor seinen Augen …

Als Hackett aus seiner Bewusstlosigkeit erwacht, liegt er mit dem Gesicht nach unten auf dem Boden, die Hände vor ihm übereinandergelegt. Langsam hebt er seinen Kopf und schreit auf vor Schmerz. Er fühlt sich starr – und geschockt schaut er um sich. Überall liegen Steine. Wo bin ich, fragt er sich. Da war ein lauter Knall. Schwerfällig schiebt er seinen Oberkörper zuerst auf die Ellenbogen und dann auf die Hände. Überall liegt so viel Staub und er mitten in einer zersplitterten Hölle. Was ist passiert? Warum ist es so unbeschreiblich heiss? Ich muss sterben, denkt er und ein weiterer, extrem lauter Knall erschüttert erst den Waggon bevor ein riesiger Feuerball diesen erfasst. Es wird noch heisser und Hackett fällt wieder auf den Boden, er schützt instinktiv die Augen mit seinen Händen. Sein Kopf schmerzt und er sieht klebriges Blut an den Händen. Alles ist voller Rauch und er kann nichts sehen. Er steht auf und schreit, ich muss weg hier, aber niemand hört ihn. Er kann nur gebückt stehen. Wo sind die verdammten Türen, fragt er sich. Aber da sind keine und das alles ist ein Albtraum!

Als er stolpert und nach unten schaut, sieht er seinen Sitznachbar auf dem Rücken am Boden liegen, die Augen starren ins Leere. Er ist tot!

Ich muss hier verschwinden, denkt er. Dieser eine Gedanke treibt ihn unablässig an. Automatisch tastet er den Toten ab, weil er sicher sein will, dass er tot ist und er ihn nicht einfach liegen lässt, wenn er noch lebte. Aber er ist tot. Er findet seine Brieftasche. Es ist die eine, alles entscheidende Sekunde, denn alles ist jetzt überlebenswichtig. Er denkt nicht nach, nimmt die Brieftasche an sich und steckt dem Toten seine in die Jacke. Ich muss hier verschwinden, wiederholt er wie ein Mantra.

Das Ende des Waggons brennt. Hackett sieht, wie das Feuer sich rasch auf ihn zu frisst und versucht, den Flammen zu entkommen, findet aber keinen Fluchtweg. Muss ich denn bei lebendigem Leib verbrennen, fragt er, ich sitze in der Falle. Verzweifelt schaut er nach oben und sieht über ihm ein kaputtes Fenster. Als der Rauch sich kurz verzieht, kommt Licht rein. Hackett packt die winzige Chance, klettert über die Sitze und steigt aus dem Fenster. Geschafft! Er steht auf dem umgekippten Waggon. Der Himmel ist pechschwarz. Dunkle, stinkende Rauchschwaden umfangen ihn, er hustet und hört Schreie. Der Gestank ist übel. Es riecht nach Diesel und verbranntem Haar, und auf irgendeine Art noch intensiver.

Ich muss weg hier, murmelt er und klettert vom Waggon hinunter, stolpert über die Gleise und sieht die vielen Menschen herumstehen. Was tun die hier? Ringsum klingelt es. Handys. Hackett bewegt sich wie ein Automat Schritt für Schritt weiter, bis er auf der anderen Strassenseite das Schild einer Untergrundbahnstation entdeckt. Er überquert die Strasse, steigt die Treppe hinab und sucht die Toilette. Da ist sie auch. Menschen eilen an ihm vorbei aber keiner dreht sich nach ihm um oder spricht ihn an. Ja, sie sind Clochards gewohnt. In der Toilette wäscht er sich das Blut und den Dreck aus dem Gesicht und von den Händen, klopft Dreck aus den Kleidern. Wie kann er jetzt herausfinden, was er tun soll. Er nimmt zitternd die fremde Brieftasche in die Hände und findet darin nicht nur einen Personalausweis von einem, der sein Zwillingsbruder hätte sein können, sondern Kreditkarten und etwas Bargeld. Er sieht ihm ja ähnlich, jetzt weiss er, weshalb er ihm aufgefallen ist.

Ich muss hier verschwinden!
Ja, ist ja gut.

Hackett ist bodenlos müde und die Schmerzen am Kopf sind unerträglich. Sein Denken ist ausgeschaltet und trotzdem funktioniert er. Mit dem Bargeld kauft er sich ein Ticket zurück nach Paddington und nimmt dort den nächsten Zug nach Bristol. Knapp drei Stunden später steht er vor dem Bahnhof in Bristol und überlegt sich zuerst, wie er jetzt hierhergekommen ist. Total neben den Schuhen.

Schlafen. Eine heisse Dusche und ein Bett wäre jetzt schön. Und im erstbesten Hotel bucht er ein Zimmer für zwei Nächte, zahlt im Voraus im Namen und der Kreditkarte des anderen. Am Empfang rümpfen sie die Nase, ob dem Gestank, der von ihm ausgeht. Nur mit Mühe erreicht er das Zimmer, zieht sich aus, legt die Kleider fein säuberlich auf einen Stuhl, duscht und fällt aufs Bett. In der nächsten Sekunde ist er eingeschlafen.

Am anderen Morgen wacht er auf und sieht sich ratlos um, bis er realisiert, wo er ist. Der Horror vom Vortag. Die Pokernacht in London. Die grösste Misere seines Lebens. In seinen stinkigen Kleidern sitzt er dann beim Frühstück und liest die Zeitung, erfährt an diesem Morgen in dem Hotel in Bristol vom grössten Zugunglück Englands. Und er ist einer dieser Passagiere. Ich bin tot, erinnert er sich auf einmal und an die falschen Papiere, die er an sich genommen hat.

Was jetzt?
Ich brauche neue Kleider.
Ich muss verschwinden!

Alles hat er verloren und der Casinobesuch hat alles schlimmer gemacht. Jetzt gibt es nur einen Ausweg: möglichst rasch das Land verlassen. Da er ja sowieso tot ist und Jessica nichts weiss, ist es das Beste. Sie zu verlieren, zerreisst ihm das Herz. Wird sie je darüber hinwegkommen und einen anderen Mann finden? Die Vorstellung, dass sie mit einem anderen Mann zusammen sein könnte, macht ihn verrückt. Er stellt den Gedanken beiseite, er muss unbedingt dafür sorgen, dass er unter den Opfern gesucht wird, bevor er das Land verlässt. Die Frage ist, wie kann ich dafür sorgen, dass sie mich bei den Opfern auch finden? Ich muss anrufen und mich vermisst melden, dann bin ich auf irgendeiner Liste, denkt er. Deshalb ruft Hackett von einer Telefonkabine beim Bahnhof in Bristol die Notrufzentrale in London an unter Jack’s Namen und meldet dort, dass Karl Hackett vermisst wird. Dann geht er einkaufen und meldet sich am gleichen Tag noch weitere Male bei der Notrufzentrale, jedes Mal mit einem anderen Namen.

In der Notfallzentrale in London merkt die erfahrene Polizistin Peggy Clarke trotz des Aufruhrs, dass ein Anrufer stets von der gleichen Nummer aber mit verschiedenen Namen anruft und macht Meldung. Beim nächsten Anruf hält sie ihn hin. Und Hackett merkt in Bristol nicht, wie sich drei Polizeibeamte seiner Kabine nähern. Er lässt sich widerstandslos festnehmen. Er hat nichts mehr zu verlieren …

Nach der Einvernahme wird er ins Untersuchungsgefängnis in Bristol gebracht, von wo er Jessica anrufen kann. Die bricht ihren Besuch bei der Mutter sofort ab und fährt zu ihm nach Bristol. Als sie ankommt, staucht sie ihn zusammen, was zum Teufel ist hier los, warum bist du hier und warum der falsche Name? Ich bin fast verrückt geworden! Weisst du eigentlich, was in Great Bedwyn los ist?

Hackett erzählt Jessica stockend, was er erlebt hat, wie er nach Bristol kam und wie er dazu kam, sich als Toten auszugeben. Er erzählt von den Schulden und der Idee, abzuhauen.

Jessica hört ihm erst fassungslos zu und verdreht mit der Zeit nur noch ihre Augen über das, was sie da hört. Fast wäre er gestorben, fast hätte sie ihn verloren, der blöde Kerl! Sie sind doch zu zweit und können Lösungen finden. Als Hackett seine Geschichte beendet, umarmt sie ihn weinend, froh, dass er noch lebt. Hackett ist verwirrt von ihrer Reaktion und weiss nicht so recht, wie ihm geschieht. Sie reden weiter und beschliessen, ihre Hochzeit zu verschieben, die in einem Monat hätte stattfinden sollen, sie wissen ja nicht, wie lange er in Bristol bleiben muss und ob er schnell wieder aus dem Gefängnis rauskommt. Alles andere ist jetzt unwichtig und müssen sie nehmen, wie es kommt. Und Hackett ahnt: Seine Chancen, dass Jessica zu ihm hält, sind definitiv gestiegen.

Ein Jahr später sitzt Hackett vor dem Richter im London Courts of Justice, neben ihm sein Anwalt. Es war ein verrücktes Jahr, das sein Leben auf den Kopf gestellt hat. Bald nach der Festnahme wurde er auch wieder aus dem Gefängnis entlassen, sie sagten, es bestehe keine Fluchtgefahr. Zurück in Slough verkaufte er sein Grafikbüro zu einem guten Preis und bezahlte damit einen Grossteil seiner Schulden zurück. Er hat einen gut bezahlten Job in einem Grafikbüro in Reading gefunden und stottert jetzt den Rest seiner Schulden bei der Bank ab. Die Anhörungen im Gericht sind vorbei und er wird gleich das Urteil erfahren. Sein Blick schweift immer wieder zu Jessica, die ihm aufmunternd zulächelt und diese Stärkung kann er jetzt gut gebrauchen.

Sind die Geschworenen zu einem Urteil gekommen, fragt der Richter, als er endlich in den Raum gekommen und sich an sein Pult gesetzt hat.

Ein Mann steht auf, schaut Hackett an, bevor er verkündet: Wir befinden den Angeklagten Karl Hackett für nicht schuldig, und sich wieder setzt.

Sprachlos schaut Hackett seinen Anwalt an, legt den Kopf in seine Hände und lacht erleichtert auf, er zittert am ganzen Körper. Doch noch ist es nicht vorbei! Der Richter klopft mit seinem Hammer aufs Pult und bezeichnet Karl Hackett als der ex-Scheintote, der den Sicherheitskräften kostbare Zeit bei ihrer schwierigen Aufgabe gestohlen habe und deshalb brummt er ihm fünf Jahre Freiheitsstrafe auf Bewährung auf …

Damit werde ich leben können, sagt Hackett zu seinem Anwalt.

Jessica und Karl umarmen sich erleichtert, verabschieden sich schon bald von seinem Anwalt, verlassen das Gericht und fahren nach Hause.

Einen Tag später, es ist ein warmer Spätsommertag, versammeln sich die beiden Familien im Elternhaus von Karl. Sein Vater hat auch Karls Grossmutter eingeladen, die 85 Jahre alt und eine inspirierende Persönlichkeit für Karl ist. Sie ist zwei Jahre zuvor Witwe geworden, der Grossvater starb nach einem erfüllten Leben und kurzer Krankheit. Sie trauert noch immer um ihren Mann. Für Karl Hackett sind die beiden ein grosses Vorbild für die tiefe Beziehung zueinander. Und sie liebt über alles diese Familienfeiern …

Nach dem Essen sitzen sie um den grossen Tisch im Garten, als Grossmutter in ihrer Tasche wühlt und einen Umschlag herauszupft. Sie räuspert sich, so dass automatisch alle in ihre Richtung gucken. Wie ihr wisst, habe ich die Geschichte meines Enkels sehr genau verfolgt, ich bin äusserst glücklich, dass du, Karl, mit einem solch blauen Auge davongekommen bist.

Das bin ich auch, das kannst du mir glauben, Grossmutter.

Also, hier habe ich etwas, das dir wieder auf die Beine helfen und dein Leben wieder in die richtigen Bahnen lenken soll, und übergibt ihm feierlich den Umschlag.

Karl Hackett öffnet ihn und traut seinen Augen nicht … er hält einen Check über 20’000 Pfund in den Händen … Grossmutter, was soll das, fragt er völlig erschrocken.

Das habe ich eben gesagt und ich wiederhole mich nicht gerne. Aber da ist noch etwas, das ich loswerden will, fährt sie fort und sagt, ich erzähle jetzt eine Geschichte über deinen Grossvater, die bisher niemand erfahren hat. Wir haben damals Stillschweigen beschlossen. Jetzt ist dir etwas Ähnliches widerfahren wie deinem Grossvater, was mich dazu bewogen hat, das Versprechen von damals zu brechen. Diese Geschichte darf sich nicht mehr wiederholen.

Karl lacht und ruft, Grossmutter, spann mich nicht auf die Folter! Was ist es, ein Familiengeheimnis?

Sie bleibt einen Moment still, konzentriert sich, und erzählt. Karl sieht seinen Grossvater in ihren Erinnerungen, wie er im Sommer 1939 eine Anstellung als Englischlehrer an der Universität in Leipzig bekommt und für zwei Jahre nach Deutschland zieht …

Ihr Plan sei gewesen, nach seiner Rückkehr zu heiraten. Doch dann kam alles anders.
Der Nationalsozialismus hat das geistige Leben in Leipzig gelähmt. Viele Mitarbeitende und Studierende an der Universität wurden entlassen, inhaftiert oder getötet. Anfang 1940 war Grossvater in grosser Gefahr, weil die Stadt von Engländern angegriffen wurde und er automatisch als Feind betrachtet wurde. Ein Nachbar im Haus, wo er wohnte, denunzierte ihn, ein Kollege konnte ihn warnen und es gelang ihm, sich in letzter Minute der Inhaftierung zu entziehen. Er floh in Richtung Amsterdam, von wo er nach England übersetzen wollte. Der Verräter aber beobachtete seine Flucht in Leipzig, folgte ihm und lauerte ihm in Hannover auf. Es kam zum Zweikampf und Grossvater tötete ihn. Er nahm dem Mann die Papiere ab und er veränderte sein Aussehen so, dass er dem anderen auf dem Foto glich. Zu Fuss flüchtete er weiter nach Amsterdam. Auf der Schiffsüberfahrt nach England flog er bei der Personenkontrolle auf, er wurde festgenommen und in London wegen Totschlags und Urkundenfälschung verurteilt. Nur sie, Grossmutter, erfuhr davon und reiste so oft wie möglich nach London, um ihn zu besuchen. Ein Richter hatte schliesslich Nachsicht und entliess ihn nach einigen Monaten, weil dieser beurteilte, er habe in Notwehr gehandelt.

Bald nachdem Grossvater nach Hause zurückgekehrt war, heirateten sie und neun Monate später kam ihr erster Sohn, Karls Vater, auf die Welt. In den Wirren des Krieges war es ein Leichtes, eine solche Geschichte zu verschleiern und mit den Jahren hätten sie es selbst vergessen. Dafür hatten sie ein glückliches Leben, bekamen zwei weitere gesunde Kinder und waren dankbar für ihr grosses Glück.

Es bleibt lange still, nachdem Grossmutter fertig ist und Karl Hackett hat das Gefühl, ihm würde eine riesige Last von den Schultern genommen. Er nimmt Jessica bei der Hand und führt sie weg vom Tisch, tiefer in den weitläufigen Garten. Er sagt zu Jessica, diese Geschichte von Grossvater berührt mich tief und trotzdem fühle ich mich irgendwie leichter. Und mit dem Geld, das ich von Grossmutter erhalten habe, bin ich wieder schuldenfrei und wir können neu anfangen, er lächelt und seine Augen strahlen.

In der Ecke mit den vielen Rosen hält er an, kniet sich hin und nimmt ihre beiden Hände in die seinen. Karl sagt, Jessica, ich frage dich das zweite Mal und verspreche dir, diesmal gibt es keine Pannen! Willst du meine Frau werden?

Jessica fällt ihm freudestrahlend um den Hals und weint. Natürlich will ich, du Idiot, antwortet sie ihm.

Sehr viel später gehen sie zurück zum Rest der Familie und kaum sind sie da, sagt seine Grossmutter laut, ich hoffe, dass ich eure Hochzeit noch erleben werde.

Karl und Jessica sehen sich an und lachen und Karl antwortet, wir werden nach unseren Sommerferien über unsere Hochzeit nachdenken und zwinkert seiner Grossmutter zu …