Strandleben auf Französisch

Für den kilometerlangen, feinen Sandstrand von Carnon-Plages stehe ich gerne früh auf, wenn ich mich im Languedoc aufhalte. Carnon ist sicher nicht der malerischste Ort im Süden Frankreichs, aber es ist dieser Strand, der es mir und Rolf, meinem Lebenspartner angetan hat. Es ist kein Strand, an dem Liegen und Sonnenschirme für die Besucher parat stehen. Das Strandequipment bringt jeder selber mit. Vom Strand aus zugängliche Cafés und Brasserien gibt es nur beim Hafen. Ansonsten blickt man vom Strand aus auf die kilometerlange Häuserzeile – Ferienhäuser und Ferienwohnungen – die mit privatem Strandzugang gesegnet sind. Jetzt im September wird fast alles geschlossen und ruhig sein.
Öffentliche Strandzugänge gibt es nur wenige.
Hinter diesen Häusern führt eine lange schnurgerade Strasse vom Osten her in den Ort, mit unzähligen Verkehrskreiseln und damit Abzweigungsmöglichkeiten in die Quartiere zur Stadt hin. Und hinter diesen Quartieren befinden sich grosse Parkplätze für Touristen und Besucher. Vom Parkplatz zum Strand sind es ungefähr zweihundert Meter zu Fuss. Es gibt absolut keine Parkmöglichkeiten direkt am Meer, wofür ich die Stadtplaner von Carnon bewundere.

Vier Jahre ist es her, seit Rolf und ich zum letzten Mal an diesem Strand gewesen sind. An diesem Morgen nehmen wir gutgelaunt die etwas über einstündige Autofahrt von unserem Domizil im Languedoc auf uns. Den Weg nach Carnon kennen wir von früher. Ja schon. Doch Erinnerungen können trügen, vier Jahre sind lang. Und unterwegs merken wir, die Strassenkarte liegt in unserer Wohnung auf dem Esstisch. Dort nützt sie uns jetzt gerade am Meisten.
„Welche Ausfahrt muss ich denn nehmen? 28 oder 29?“, fragt Rolf, als wir in die Region Montpellier kommen. Er sitzt heute am Steuer.
Bien, ich erinnere mich echt nicht mehr, welche richtig ist“, antworte ich, den französischen Lebensstil nacheifernd und Strassentafeln studierend.
Und deshalb entscheidet er sich für die Ausfahrt 28, weil dort La Grande Motte / Carnon angeschrieben steht. Natürlich ist es die falsche Ausfahrt. Auf Nebenstrassen treffen wir in Carnon ein und Rolf steuert den ersten grossen Parkplatz an. Und natürlich ist es der falsche Platz.
„Aber wo ist der andere? Der, auf dem wir letztes Mal waren?“, will er wissen und kutschiert mich im Schritttempo durch die Quartiere. Oder sollen wir am Strassenrand im Quartier parkieren? Die vielen freien Plätze laden geradezu ein, Rolf hält neben einer Parkuhr an.
„Oh, die ist neu hier!“, rufe ich. Ah … und wie zuhause verlangt sie jetzt auch in Frankreich das Autokennzeichen und Bezahlung via App, wie ich vom Auto aus erkennen kann. Aber Kreditkarte geht auch. So weit so gut. Ich will mich drum kümmern und steige aus, während Rolf die Badesachen aus dem Auto holt. Aber bei jedem Tippen auf das Startzeichen wird das Display der Parkuhr schwarz. Das Sonnenlicht reflektiert, ich erkenne kaum etwas und auf einmal funktioniert nichts mehr …

Das Navigationsgerät lokalisiert den „alten“ Parkplatz, Rolf fährt die lange, schnurgerade Strasse entlang westwärts, biegt irgendwann rechts ab und fährt geradewegs auf den Platz zu und rein.
Auto geparkt. Geschafft! Parking payant steht da.
„Ah, das ist auch neu.“, bemerke ich. Denn noch vor vier Jahren war das Parkieren hier gratis. Ja, auch die Franzosen lassen sich neue Einkommensquellen nicht entgehen. Und Touristen das Geld aus der Tasche ziehen, nun, das ist ein sehr beliebtes Hobby. Auf jeden Fall steht unser Auto jetzt in der zone orange und dazu vor der Police municipale.
„Sicherer könnte dieser Parkplatz wirklich nicht sein“, sage ich schmunzelnd.

Endlich an den Strand!

Ich übernehme wieder die Parkuhr und drücke auf das Startzeichen. Das Display hellt auf und wird gleich wieder schwarz. Nach einigen erfolglosen Versuchen erscheint die Meldung auf Französisch:
„Suchen Sie eine andere Maschine.“
Ich brauche einen Moment zu begreifen, dass diese Parkuhr ausser Betrieb und tatsächlich eine machine ist. Oh, aha … Ich soll also eine andere Parkuhr suchen? Gut. Ich drehe mich um und lasse meinen Blick schweifen. Doch weit und breit sehe ich keine andere. Auch nicht auf dem grossen Parkplatz gleich nebenan.

Ich bin genervt … Ich will doch an den Strand und nicht mich mit Parkuhren herumschlagen. Aber, wir sind in Frankreich, da sollte ich doch alles ein bisschen leichter nehmen, oder? Inzwischen ist Rolf wieder bei mir und ich schlage vor: „Dann lassen wir das Auto einfach stehen und gehen an den Strand.“
„Aber ohne zu bezahlen? An diesem Ort, gleich neben den flic?“, hält Rolf entgegen.
Ein mulmiges Gefühl beschleicht mich, das könnte in der Tat teuer werden. „Aber, wenn die Parkuhr nicht funktioniert, und es keine anderen gibt, kann das nun ja wirklich nicht unser Problem sein, oder?“, erwidere ich ungeduldig.

Das überzeugt ihn und wir laufen los. Bis um die nächste Ecke, wo wir auf einmal doch vor einer Parkuhr stehen. Seufz, es gibt keine Ausrede, denn diese machine funktioniert und wir zahlen besser.
„Fünfunddreissig Euro wollen die für den Tag!“, krächze ich ungläubig und ziehe erschrocken meine Hand zurück. „Sind die nicht ganz bei Trost? Das ist sicher wegen der Nähe zur Police municipale?“, spotte ich weiter.
Rolf scrollt am Display zurück. „Ok, vier Stunden für vierzehn Euro dreissig? Das sollte reichen. Mehr zahle ich nicht.“
„Und das entspricht dann wie viel Teuerung?“, stichele ich.

Während Rolf den Parkschein im Auto hinterlegt schultere ich einen Teil unserer Badesachen und höre auf einmal eine weibliche Stimme mich in Französisch ansprechen:
„Pardon Madame, haben Sie etwa schon bezahlt?“
Überrascht drehe ich mich um und sehe ein älteres französisches Ehepaar vor mir stehen.  
«Oh oui», sage ich.
«Ich habe mir erlaubt, Sie anzusprechen, um Ihnen zu sagen, dass der Parkplatz dort drüben gratis ist.», und zeigt mit der Hand auf den Platz neben der zone orange, wo ich vorhin keine Parkuhr fand.
«Das ist jetzt nicht wahr», rufe ich aus.
«Mais oui, das ist wegen der Bauarbeiten.»
Das ist jetzt wirklich die Höhe, denke ich und lache einen Moment in mich hinein. Tatsächlich sind auf der anderen Seite des Platzes grosse Arbeiten im Gange.
«Ja nun, gut, dann wissen wir es beim nächsten Mal. Es ist wirklich sehr nett, mir das zu sagen. Vielen Dank.», erwidere ich.
«Sie sind Schweizerin?»
«Ja, und wieder einmal auf Besuch in Carnon.», beeile ich mich zu erzählen.
Als Touristin entlarvt … und etwas beleidigt fühle ich mich schon, weil ich mir alle Mühe gebe mit meinem Französisch … Ihr Mann erklärt mir, wie ich fahren muss, um zum anderen Parkplatz zu kommen. Da kommt auch schon Rolf zurück. Ich verabschiede mich von den beiden und erzähle ihm von unserem Pech.
«Jetzt wissen wir es für das nächste Mal.», sagt er lakonisch.

Jetzt aber nichts wie direkt zum Strand. Der Zugang ist immer noch gleich wie letztes Mal. Und auf den ersten Blick scheint sich nichts verändert zu haben. Mais oui, etwas hat sich eben doch verändert. Es gibt jetzt einen Poste de sécurité und Toilettes. Die sind jetzt aber geschlossen, es ist Mitte September und die Saison vorbei. Und – die grossen, runden Abfalltonnen sind weg. Dafür stehen Tafeln da: „Haben Sie auch nichts vergessen? Packen Sie Ihren Abfall ein. Das ist ein Strand ohne Abfalleimer.“
D’accord, damit habe ich wie auch Rolf sowieso keine Probleme.
Dann versinken meine Füsse im warmen Sand. Endlich bin ich wieder da und es tut so gut. Wir bestimmen unseren Platz auf dem fast menschenleeren Strand, breiten unsere Badetücher aus, Rolf fixiert unsere blauen Sonnenschirme in den Sand, die wir im Carrefour gekauft haben, ich ziehe mich aus und springe ausgelassen ins Meer. Rolf braucht etwas länger, um ins kühle Nass zu kommen. Das kalte Wasser tut gut, Anspannungen und jegliche Parkuhren sind sofort weit weg. Eine Weile lasse ich mich vom Wasser tragen, steige dann wieder hinaus und lege mich auf mein Tuch in die Sonne. Ich schliesse die Augen und die Welt in diesem Moment ist vollkommen in Ordnung: Endlich wieder dem Rauschen der Wellen lauschen, in den wolkenlos blauen Himmel schauen, den Seemöwen zuhören, Sonne tanken, in vollen Zügen die Wärme und die leichte Brise auf der Haut spüren, die salzige Luft einatmen. Und ich höre nur Menschen, die französisch sprechen.
Auf dieses Strandleben habe ich mich wie ein Kind gefreut.

„Ich freue mich darauf, später Nils und Françoise wieder zu sehen und zu erfahren, wie es ihnen nach den vergangenen Jahren geht.“, sage ich munter zu Rolf, der inzwischen ebenfalls wieder zurück ist.

Vor vielen, vielen Jahren sind sie vom hohen Norden hierhergezogen, haben dieses kleine Bistro übernommen und es „Chez Nils“ getauft. Es liegt etwas versteckt in einem der Quartiere und ist das ganze Jahr geöffnet. Wir haben es bei unserem ersten Besuch zufällig entdeckt, sind ausserhalb ihrer Öffnungszeiten hineingeplatzt, haben trotzdem einen Kaffee erhalten und sind ins Gespräch gekommen. Seither besuchen wir sie jedes Mal und essen dort, wenn wir in Carnon sind. Es ist erstaunlich, was in Frankreich ein kleiner Café bewirken kann … Und jedes Mal erinnern sie sich …
Ich freue mich auf Nils‘ gute Küche. Mir läuft jetzt schon das Wasser im Mund zusammen, wenn ich nur an die Moules marinières denke.

Gegen 14:00 Uhr wickle ich mein Strandtuch blickdicht wie ein Sari um meinen Körper, hier wird es nicht geschätzt, wenn man in Badekleidern ins Restaurant kommt. Dann stapfen wir für ein spätes Mittagessen hoch und stehen überrascht und sprachlos – vor verschlossener Tür.
„Ausserordentlich geschlossen“, steht handgeschrieben auf einem weissen Blatt Papier, angeklebt an der Tür. Ausgerechnet!
„Das ist jetzt nicht wahr oder?“, finde ich endlich wieder meine Worte.
„Was ist? Geschlossen?“
„Ja, das gibt’s jetzt nicht. Schade.“ Und Pech … Ich drehe mich ab. „Was jetzt? Wollen wir gleich nebenan etwas essen?“
Nebenan ist es proppenvoll, es ist eng, es ist heiss, aber unsere Blicke erhaschen einen freien Tisch, den beschliessen wir zu ergattern und drängen langsam zwischen den Gästen vor.
„Ah, ah, ah!“ … ruft uns der Chef mit erhobenem Zeigefinger zu und kommt mit vor Schweiss glänzendem Gesicht und verzerrter Miene entgegen.
„Haben Sie reserviert?“, fragt er laut über die Köpfe der sitzenden Gäste hinweg.
Non„, antworte ich und dann – läuft er wieder davon.
„Ja, was jetzt, Monsieur? Können wir uns setzen oder nicht?“, frage ich verwundert hinter ihm her. Inzwischen lärmt er fuchsteufelswild in der Küche herum.
„Lass uns gehen. Hier sind wir wohl kaum willkommen.“, sagt Rolf.

Zurück am Strand erblicke ich weit vorne im Westen rote Sonnenschirme.
„Das sind sicher Restaurants“, sagt Rolf und wir machen uns dem Strand entlang auf den Weg, kommen tatsächlich zur Hafeneinfahrt von Carnon und in der „Brasserie Les Copains“ an, werden laut und fröhlich begrüsst, finden freie Plätze im Schatten, wo wir etwas essen können.
Eh voilà …
Während wir auf unser Essen warten, fährt mit blinkenden Lichtern und in hohem Tempo ein Pickup mit einem grossen Tank auf der Ladefläche an der Terrasse vorbei auf den Strand. „Intervention 24/24h, 7/7“ steht mit blauen und grünen Buchstaben seitlich am Wagen, den Rest kann ich nicht mehr entziffern. Wir drehen uns um, es muss ein furchterregendes Ereignis sein, das diesen Auftritt ausgelöst hat.

Ungefähr dreissig Meter weiter vorne befindet sich auch eine Strandbar und fünf Minuten später wird klar, warum er hier ist. Der plötzliche Gestank ist wirklich übel, ja bestialisch. Zwischen der Bar und der Brasserie stehen, verborgen hinter Sichtschutzwänden, zwei mobile Toiletten. Wir haben sie bisher nicht gesehen. Und der Fahrer, ein junger Franzose, pumpt in der nachmittäglichen Hitze und im Wind, der vom Meer herkommt, den Inhalt der Toiletten in den Tank.
Unsere Salate werden serviert: „Guten Appetit“, wünscht uns der Kellner.
Mir dreht der Magen um, so schlecht wird mir und bin damit nicht alleine. Rolf und einige andere halten sich die Nase zu, wiederum andere reklamieren laut. Ein Paar vor uns hält inne. Sie waren gerade daran, für den Abend einen Tisch zu reservieren. „Bitte streichen Sie das wieder.“, höre ich sie sagen, sie stehen rasch auf und verlassen die Terrasse.

Der Kellner, der nimmt jetzt den Weg unter die Füsse und marschiert zu dem Mann am Pickup. Er sagt nichts, als er zurückkehrt, wir hören nur, wie er einem anderen Paar erzählt, dass die Toiletten normalerweise morgens in der Früh geleert würden. Wir erfahren nicht, warum das heute anders ist und werden noch einmal mit dem Gestank menschlicher Exkremente eingehüllt, bevor der Fahrer seine Arbeit erledigt hat. Zehn Minuten später verlässt der Pickup in hoher Geschwindigkeit und mit blinkenden Lichtern den Strand. Der Fahrer schaut strikte gerade aus.
Als die Luft endlich wieder rein ist, essen wir unsere Salate und nach einem Espresso verlassen auch wir die Brasserie, und gegen Abend den Strand mit dem Vorsatz, unseren nächsten Besuch nicht wie Touristen, sondern wie die Franzosen anzugehen.

Dieser nächste Besuch ist nach einigen kühlen Tagen und etwas Regen, eine Woche später. Die Strassenkarte, in die ich vor vier Jahren den Weg nach Carnon-Plages notiert habe, liegt bereit: Diesmal bin ich am Steuer, fahre an der Ausfahrt 29 der neuen Autobahn ab, biege in Carnon gleich rechts ab, so muss ich nicht durch die ganzen Wohnquartiere fahren, und gelange gleich auf den richtigen Parkplatz. Dort steht eine Tafel, wo wir lesen, dass hier über 200 Bäume gepflanzt werden.
Eh bien, dann wird der schattige Parkplatz nächstes Jahr auch etwas kosten.
Auf dem Weg zum Strand sehe ich beim Bistro „Chez Nils“ vorbei: «Geschlossen wegen Krankheit. Die Direktion», steht handgeschrieben in französischer Sprache auf einem weissen Blatt Papier, angeklebt an der Tür.
Nicht gut. Gar nicht gut.
Und dann ist es wieder soweit: Die Füsse versinken im warmen Sand. Wir suchen uns einen Platz auf dem Strand, breiten unsere Badetücher aus, Rolf fixiert die blauen Sonnenschirme im Sand, ich ziehe mich aus und springe rasch ins erfrischende Meer, bevor ich mich auf meinem Badetuch in die Sonne lege. Ich schliesse die Augen und lausche dem Rauschen der Wellen, schaue in den wolkenlos blauen Himmel, höre den Seemöwen zu, tanke Sonne und spüre die Wärme und die leichte Brise auf der Haut.

Für den Lunch habe ich vorgesorgt und ein Picknick vorbereitet. Wie alle Menschen hier, geniessen wir es später in Gesellschaft der vielen Seemöwen. Sie umkreisen frech jede Menschengruppe am Essen, und warten begierig auf jeden fallen gelassenen Krumen.
Strandleben auf Französisch – köstlich und nicht zu toppen …
Und wir machen uns Sorgen. Nils und Françoise müssen inzwischen pensioniert sein und haben in ihrem Bistro weitergearbeitet. Werden sie im nächsten Jahr hier sein? Werden wir sie wieder sehen? …


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