Die Kraft der Langsamkeit ist auch ein Schiff

Es war ein sonniger und klarer Sommertag im August, unter der Woche. Lisa ist ein Wandervogel und liebt die Bewegung. Jetzt aber war sie ungeduldig. Sonne, Wasser und Nichts tun erwarteten sie. Ob sie dies einen ganzen Tag überstehen würde, weiss sie nicht.

Rolf ist der Mann an Lisas Seite. An diesem Morgen reisten sie mit dem Zug nach Biel und spazierten den kurzen Weg zu Fuss zum Schiffsteg der MS Petersinsel, einem grossen, erhabenen Schiff mit Platz auf verschiedenen Ebenen. Ihre Bedenken schwanden ein wenig, als sie sah, wie viel Platz das Schiff bot.

Nachdem sie kurz vor Abfahrt eingestiegen waren, legte das Schiff ab und stach in See. Eine Tour auf dem Bieler-, Neuenburger- und Murtensee. Alle drei Seen auf einen Schlag. In einem Tag. Einzig ein längerer Aufenthalt in Murten war geplant. Im Freiluft-Café auf dem obersten Deck, nahe dem Führerstand, richteten sie sich bei Kaffee und Gipfeli gemütlich ein und beobachteten die vorbeiziehende Juralandschaft mit all seinen Winzerdörfer am Bielersee. Lisa juchzte vor Freude, denn von hier aus erkannte sie alle bisher besuchten Dörfer und gewanderten Routen der ersten Jurakette. Welch Überblick über den Jura sie gewonnen hat, seit sie hier lebt!

Einen Teil dieser Schiffsreise hatte Lisa schon einmal erlebt. Damals, als Sekundarschülerin. Sie erzählte Rolf die Geschichte dieses einen Klassenausflugs in den Jura, ihr schönster Ausflug und einer ihrer glücklichsten Tage der Kindheit. Sie erinnerte sich nicht mehr, wo im Jura sie genau waren, aber wie stolz sie gewesen war, dabei sein zu dürfen und wie schwer sie an dem viel zu grossen Rucksack getragen hatte. Mit dem Schiff waren sie zurück nach Biel getuckert. Mehr Erinnerung hatte sie nicht mehr. Kunststück. Über dreissig Jahre war das her …

Und schon legten sie bei der St. Petersinsel an. «Weisst du noch? Unser Ausflug auf diese Insel?», sagte Lisa grinsend zu Rolf.

«Ja, klar! Wie könnte ich das vergessen!» seufzte Rolf.

Sie schwelgten in der Erinnerung: Zu Fuss hatten sie die ganze Insel erkundet – ab Erlach bis zum Klosterhotel an der Spitze der St. Petersinsel gewandert. Picknick gemacht. Geplant war die Rückfahrt per Schiff ab eben dieser Anlegestelle. Sie hatten dann da am Steg gestanden. Geduldig auf die Ankunft des Schiffes gewartet. Die Abfahrtszeit war verstrichen. Kein einziges Schiff war gekommen!

«Und endlich studierten wir den Fahrplan!»

«Am Montag verkehren gar keine Schiffe auf dem See!», erwiderte Lisa und schüttelte den Kopf. Wie konnten sie das übersehen! An jenem Tag hätte sie kein einziges Schiff abgeholt. Sie hatten sich gekugelt vor Lachen. Wenn sie nach Hause wollten, mussten sie hinüber ans Seeufer schwimmen oder zurück nach Erlach wandern. Sie hatten sich für den Landweg entschieden. 

«Den ganzen Weg zurück sangen wir lauthals das Lied „(K) Ein Schiff wird kommen … von Lys Assia», sagte Rolf.

«Genau. Aber wir trafen keinen Menschen, keiner konnte uns hören!», antwortete Lisa schmunzelnd.

Das Schiff legte in Erlach an. An diesem Tag war es ein Durchgangsort. «Heute bezahlen wir keine Parkgebühren hier!» äusserte sich Rolf beim Andocken …

Oh nein! Das war die eine Wanderung auf der anderen Seeseite. Nach der Rundwanderung marschierten sie an ihrem Ziel Erlach wieder ein zum Parkplatz. Unter dem Scheibenwischer lag ein rosa Zettel – eine Parkbusse! Sie waren fünf Minuten zu spät!

«Ungastlicher Ort!», erwiderte Lisa lachend.

Canale de Thielle

Inzwischen erreichte das Schiff die Anlegestelle Le Landeron, direkt am Eingang des Canal de Thielle. Landschaft und Atmosphäre veränderten sich abrupt. Laubbäume, Schilf, Pappeln und Sträucher säumten ab jetzt das Ufer. Das Schiff verlangsamte das Tempo wegen der Wassertiefe, Wellenentwicklung und des Uferschutzes. Wenn es die Brücken über die Kanäle passierte, begann ein besonderes Prozedere: das Steuerhaus wurde versenkt, der Kamin umgekippt und der Masten verstellt. An einer der Brücken zogen auch Lisa und Rolf ihre Köpfe ein – artig verbeugten sie sich auf dem obersten Deck, weil die Brücke so tief lag. Dann lag der Neuenburgersee vor ihnen. Das Ende des Sees war nicht erkennbar. Am Horizont war es dunstig und Lisa war sich sicher, ohne Dunst hätten sie die Wölbung der Erdkugel an den Segelschiffen erkannt.

Wasser und darüber einzig der Himmel. Ehrfurcht ergriff Lisa: «Mensch, all das ist für uns. So viel Platz. Wir leben hier und das steht uns zur Verfügung. Dieses wundervolle Geschenk der Natur. Was machen wir daraus? Nutzen und erhalten wir das zu unseren Gunsten? Oder zerstören wir es?» Fragen, die sie zum Nachdenken anregten …

Sandsteingrotten von Lamberta, Mont-Vully

Das Schiff bog links ab und nahm Kurs quer über den See Richtung Canal de la Broye. Von weitem schon erkannten Lisa und Rolf die Anhöhe des Mont-Vully auf der rechten Seite des Kanals. Da war doch diese Wanderung ab Sugiez hoch durch die Reben zu dem grossen Picknickplatz und dem einzigartigen Panorama und dann nach Môtier. Auf dem Weg hinunter hatten sie die auffälligen Sandsteingrotten von Lamberta entdeckt, die immer noch eine düstere Vergangenheit ausstrahlten und umgeben sind von Rebhängen. Es war genauso ein schwüler Tag gewesen.

Doch an diesem Nichts-Tun-Tag umschifften sie den Mont-Vully, tuckerten vorbei an riesigen Gemüsefeldern und grossen Pferdegestüten, an dem grossen Campingplatz, passierten eine aus Holz gebaute Velo- und Fussgängerbrücke, bevor sie Sugiez und bald danach den Murtensee erreichten.

Murten

In den nächsten zwanzig Minuten kamen sie dem malerischen Städtchen Murten langsam näher. Murten mit der gut erhaltenen Stadtmauer, den zahlreichen Türmen, dem Schloss, den stattlichen Bürgerhäusern, den Lauben und Brunnen – ein attraktiver Ort, wie sie später eingestehen würden. Murten liegt gegenüber dem Mont-Vully in einer lieblichen Landschaft und bildet zugleich Eingangstor und Bindeglied zur welschen Schweiz. Lisa war das erste Mal in Murten. Nach dem Anlegen liefen sie vom Hafen hoch bis zum alten Stadttor und bogen rechts in die Hauptgasse ein.

In Murten gibt es eine bekannte Bäckerei für Nidelkuchen. Rolf wollte unbedingt hin. Doch zuerst war Mittagessen angesagt, die Bäckerei und ein Stadtrundgang danach. Die Sommerhitze zog sie schnell in die erstbesten einladenden, kühleren Innenräume eines Restaurants. Sie tauchten ein in eine typisch anatolische Atmosphäre und wurden fürstlich bedient. Der Salat erfrischte und die gefüllte Aubergine „Der Imam fiel in Ohnmacht“, war so göttlich, dass auch sie fast in Ohnmacht fielen. Warum an der Decke so unzählige farbige, anatolische Lampen hingen, wollte Lisa wissen. Zum Verkauf – erzählte der Chef des Hauses …

Nicht einmal das kleinste Stück der berühmten Nidelkuchen hatte mehr Platz. Sie standen vor dem gluschtig machenden Schaufenster und entschieden, die Bäckerei ein anderes Mal zu besuchen. Sie spazierten durch die Gassen der Murtener Altstadt und verblieben im schattigen Schlossgarten, bevor es Zeit wurde, hinab zum Hafen zu steigen, wo das Schiff wieder ablegte. Der Nachmittagshitze entflohen sie in den Schiffsbauch, wo nur wenige Gäste sich aufhielten. Die Rückfahrt bis zum Neuenburgersee nutzten sie für eine kleine Siesta.

Neuenburg

Die Stadt Neuchâtel nahte mit seinen auffallend grossen, modernen Gebäudekomplexen neben Wohnhäusern älteren Baustils. Das alles schien so absolut nicht zusammenzupassen. Manchmal wunderte Lisa sich schon über die Ästhetikvorstellungen von Architekten und Bauherren. Neuchâtel erschien riesig gegenüber Murten und den beschaulichen Winzerdörfer am Bielersee.

Ab Neuchâtel füllte sich das Schiff zusehends auf. Lisa und Rolf verblieben im Heck der mittleren Schiffsebene. Der Himmel hatte sich inzwischen bedeckt und die Wolken spielten mit den Sonnenstrahlen. Ein ziemlich kühler Wind war aufgekommen. Auch sie spielten: Jacke an, Jacke aus, Jacke an…

Lisa erkundete das Schiff auf seiner ganzen Länge und allen Ebenen. Sie stand an der Reling und liess sich einlullen von der Ruhe, Natur, dem monotonen Schnattern der Menschen und Kindergeschrei um sich. Das Brummen des Schiffmotors, das Zischen des Wassers, wenn es vom Schiffsbug geteilt wurde und das Schlagen der Wellen am Schiffsrumpf. Menschen stiegen aus, andere stiegen zu. Ein junger Matrose kontrollierte die Fahrkarten. Die Geräusche und Bewegungen rund um die Anhalte- und Ablegemanöver. Der Rhythmus dieses Schiffes hatte Lisa ganz ins Hier und Jetzt befördert. Die Ungeduld vom Morgen war weg. Alles war langsam geworden.

Das ist das Geheimnis der Langsamkeit! Wenn der Augenblick gekommen ist und nichts anderes mehr wichtig ist als gerade dieser eine Moment an der Reling, diese Fahrt, dieser Tag und das, was ich gerade tue. Ich bin wach und präsent, gehe langsamen Schrittes, meine Gedanken sind zur Ruhe gekommen, ich bin zufrieden und – ich spüre meine volle Kraft. Es ist wie dieses grosse, behäbige Schiff – wenn es in seinem Tempo, aber mit der ganzen Motorenkraft voraus über den Seeweg gleitet. Um das Schiff zu drehen oder anzuhalten, benötigt es viel geduldige und abgestimmte Manöver und Zeit. Wie oft versucht der Mensch mit Nachdruck und von einem Tag auf den anderen Veränderungen in seinem Leben zu bewirken – eine Angewohnheit zu ändern oder eine neue Fähigkeit zu lernen – und am Ende ist nichts draus geworden?

Geh es langsam an! Ein neuer Rhythmus, eine neue Angewohnheit, eine neue Fähigkeit formiert sich am besten, wenn wir es zunächst langsam angehen. Verlangsamen. Abbremsen. Entschleunigen. Anhalten …

Auf dieser Tour? Voll gelungen. Lisa lächelte.

Zurück in Biel endete die «Tour-des-trois-lacs» und sie spazierten Richtung Bahnhof. Unzählige, festlich gekleidete Menschen warteten bereits ungeduldig am Quai …