Schlüssel zur Erinnerung

Finde einen guten Platz, setz dich hin und suche bewusst nach Erinnerungen … Das ist das, was ich üben soll, um Stoff für einen Roman zu finden und zu verarbeiten.

DAS funktioniert bei mir so nicht! Bei mir stellen sich Erinnerungen ein. Meine Erinnerungen sind gut archiviert in einer imaginären Kugel und ich kann dort Türen und Schubladen öffnen. Doch auch das funktioniert nicht einfach so. Ich brauche immer einen Schlüssel. Der kann in einer Frage verborgen sein, in einem Gegenstand versteckt oder ich erhalte einen Impuls in der Natur oder in einem x-beliebigen Gespräch …

«Nicht was wir gelebt haben, ist das Leben, sondern das, was wir davon erinnern, um davon zu erzählen.»

Gabriel Garcia Marquez

Genau! Ich bin ganz der Meinung dieses grossen südamerikanischen Autors, dessen Bücher mich auch heute noch sehr inspirieren.
Mit den Gedanken bei diesem Zitat und seiner Bedeutung für mich, hole ich mir eine Mandarine aus der Früchteschale – und esse damit auch die erste dieser Früchte in dieser Saison. Um die Weihnachtszeit herum bekamen wir unglaublich viele Clementinen angeboten. Jetzt ist Februar und ich halte die erste Mandarine in meiner Hand. Sie sieht aus wie die kleinere Ausgabe einer Orange. Ist sie aber nicht. Sie hat eine viel weichere und dickere Schale, die ich jetzt entferne. Und sie riecht anders. Ich liebe diesen warmen Duft nach Sonne bei den Mandarinen. Sie sei übrigens auch die viel ältere Frucht als die Clementine und werde leider nur noch selten angebaut. Das ist sehr schade, denn sie schmeckt mir viel, viel besser. Das Fruchtfleisch hat eine dunklere, leuchtende Farbe. Ein dunkles Orange, in das etwas Gold gemischt wurde, habe ich das Gefühl. Ich teile die Frucht und sehe mir einen Schnitz an, als wollte ich gerade eine Mandarinenmeditation machen. Dann schiebe ich ihn mir in den Mund und koste den typischen, sehr süssen und fruchtigen Geschmack.
Ja, so schmecken Mandarinen.
Genau so.

Doch – das ist nicht das, worüber ich eigentlich schreiben will. Denn mit dem Genuss dieser Mandarine – kam die Erinnerung. Nur eine Mandarine schafft es, mir diese Erinnerung aus der Schublade meines Archivs hervorzuholen. Die Erinnerung an die Chlaussäcke der Kindheit. An die Jutensäcke, gefüllt mit Erdnüssen, Baumnüssen, gedörrten Birnen und Äpfeln, Lebkuchen und Weihnachtsguetzli und – mit eben diesen saftigen Mandarinen. Und – die Erinnerung daran, dass ich, bevor ich einen solchen Claussack überhaupt bekam, was erleben musste! Nur die Mandarine schafft es, mich an diesen einen Chlausbesuch zu erinnern …

Mit all meinen Geschwistern sass ich in der Stube unseres Zuhauses, komplett eingeschüchtert, in einer Ecke am Boden. Ich ging wohl auch schon zur Schule. Die Mutter sass an der Wand auf einem Stuhl und jemand sass ihr auf dem Schoss. Der Vater hockte auf der Sitzbank am Stubentisches mit dem obligaten, stinkenden Villiger-Stumpen zwischen den Lippen. Im Vorfeld hatte er, wie er das immer mit allem tat, alles verteufelt, was mit diesem Abend und dieser Tradition in Verbindung stand. Doch das wusste ich damals nicht.
Es würde unendliche Schelte geben für die, die nicht brav gewesen seien. Der Samichlaus wisse ALLES über einen! ER sähe alles, was ICH das ganze Jahr über getan hätte, hörte ich.
Ich verstand damals, dass ER an diesem Abend über mich richten würde! ER war die Allmacht und würde über mein Leben oder den Tod entscheiden! Ich schlotterte am ganzen Körper während ich da auf mein kommendes Urteil wartete. Innerlich schlotterte ich, niemand sah das. Und ich wollte auch nicht zeigen, dass ich Todesangst aussass.

Und dann trat er in die Stube, der Samichlaus. In seinem roten Gewand mit den weissen Borten, dem weissen Bart und diesem langen Stab mit der Krümme, wie der Bischof auch einen hatte. Und draussen klirrten diese fürchterlichen Schellen und ich wusste, DAS waren die Schellen seines Helfers. Der Schmutzli! Der schwarze Mann mit dem grossen, stinkenden Jutesack, in dem er alle die bösen Kinder einpackte und sie forttrug – wohin wusste ich nicht. Auf jeden Fall kamen sie nicht wieder. So wurde es erzählt. Und er hatte eine grosse Rute dabei, mit der er zuschlug.

Oh Gott, was sollte ich nur tun?

Und dann kam auch er in die Stube. Hinter dem Samichlaus kam er rennend, tänzelnd nach, damit die Schellen an dem Riemen um seinen Körper auch ständig bimmelten. Das Klirren der kleinen Schellen war furchterregend. Er rannte auf die Stube zu und sah nicht die Schwelle … Er stolperte über diese Schwelle und flog in hohem Bogen und so lang wie er war, am Samichlaus vorbei über den Boden. Er prallte laut auf dem Bauch und dem Boden auf, rutschte über den frisch gebohnerten, alten Parkettboden, der ihn nicht aufhielt. Er rutschte unter den Stubentisch, die Stühle flogen krachend beiseite – er rutschte weiter – bis ans Ende des Tisches, unter die Sitzbank, die an der Wand stand …

Und dafür war ich verantwortlich. Dass der Boden gebohnert wurde. Und ich war stets gründlich, bohnerte bis das Holz schön glänzte und glatt war.

Er muss dann vor Schmerzen ächzend und wimmernd unter dem Tisch hervorgekrochen sein, die Rute gesucht und sich neben den Samichlaus gestellt haben. Doch daran erinnere ich mich nicht mehr. In meiner Erinnerung höre ich den Samichlaus aus seinem grossen Buch lesen und schaue zu, wie er die Säcke verteilt. Ich erinnere mich nicht mehr, was er MIR gesagt hat. Aber – an diesem Abend kam ich definitiv mit meinem Leben davon. Bohnerte ich auch weiterhin den Boden so gründlich, würde DAS mir helfen, Gefahren abzuwenden. Ja, zu der Zeit gab es noch keinen Spannteppich in der Stube, der kam erst später …

Und jetzt – mit einem «big smile» im Gesicht – nehme ich mir eine zweite Mandarine aus der Schale, schäle sie und lasse jeden einzelnen Schnitz auf der Zunge vergehen.



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