Stürme fegten die letzten Tage orkanartig über den Jurasüdfuss hinweg. Heulende Winde peitschten den Regen an die Terrassentüren und Fenster. Viele Bäume sind gefallen, Fahrleitungen wurden heruntergerissen und Fahrstrecken sind unterbrochen. Und heute präsentiert sich der Himmel wolkenlos, es ist sonnig warm, das Thermometer steigt auf neun Grad Celsius. Als wäre nichts passiert.
Es ist Übergang vom Winter zum Frühling. Die Natur putzt den Winter fort.
In diesem Übergang liebe ich ein bestimmtes persönliches Ritual. Ein sanftes Fasten. Mehr eine Reinigungskur, die mein Verdauungssystem aufräumt, wie eine innere Frühlingsputzete. Doch nicht nur das Verdauungssystem wird aufgeräumt und gereinigt, auch in meinem Geist, meinen Ideen, meinen Plänen und anderen Gedanken räume ich auf und mache Platz für Neues. Ich gehe danach gestärkt in den Frühling. Es ist ein liebgewonnenes Frühlingsritual, für das ich mir eine Auszeit nehme – und es hilft immer …
Anfang dieses Jahr ist der Startschuss gefallen für mein grosses Schreibprojekt. Und das hat mir bis jetzt einige – nur gute – Überraschungen bereitet in Bezug auf meinen Schreibprozess. Bisher schrieb ich, wann immer ich Zeit hatte und meine Notizbücher sind chronologisch geordnet. Seit ich schreibe, also mein ganzes Leben lang, habe ich das so gehalten. Aber jetzt – jetzt soll ich mir neu eine Schreibstruktur aufbauen: Wie ich Material wo sammle, wo und wie ich es ablege und dann verwerte. Also vom völlig freien Schreiben zu Ordnung und Struktur. Auf einmal habe ich Plots, ich habe Szenen und Prämissen, ich habe Spannungsbogen, Textwerkzeuge und vieles mehr. Es wird professionell.
Und – ich soll mir klar machen, warum ich und worüber ich schreibe.
Das ist völlige Freiheit des Schreibens gegen eine vorgegebene Struktur. Diese Extreme macht mir erst einmal Angst. Es ist genau das Gegenteil von dem, was ich gewohnt bin. Kann ich da noch schreiben? Fällt mir da noch was ein? Das Chaos in meinem Hirn ist angerichtet. Ich bin völlig wirr und weiss nicht mehr aus noch ein. Was ist jetzt was und wann kommt wo was?
Dabei dachte ich, mein Roman sei eigentlich fertig. Ich dachte, ich ziehe ihn nur noch aus der Schublade und gebe ihn ab.
Nein. Denn jetzt kommt das Überarbeiten.
Okay …
Heisst das, ich passe meinen Schreibprozess völlig an vorgegebene Strukturen an? Nein.
Was ist, wenn ich Freies Schreiben und Struktur verbinde? Ich sehe und spüre die Vorteile. Aber, ICH muss MEINE Struktur bauen, so dass es mir gut geht zwischen freiem Schreiben, Planung und allem anderen.
Als erstes soll ich mir feste Schreibzeiten in den Kalender eintragen und einhalten. Am besten morgens, gleich nach dem Erwachen. Morgenseiten. Ich stelle mir also den Wecker eine halbe Stunde früher wie sonst, stehe schlaftrunken auf und … nach mehr als einem Probemonat kapituliere ich. Mein Geist und Verstand brauchen morgens zuerst Duschen, Anziehen und Kaffee. Dann bin ich auch produktiv. Das ist mein Biorhythmus. Nur – im Normalfall gehe ich nach dem Kaffee zur Arbeit. Die ist nämlich auch noch da. Also schreibe ich wieder, wann ich Zeit habe.
Mein Hirn ist genial und hat mich jetzt total überlistet … es hat das gleichmässige Schreiben zur immer gleichen Zeit bereits als positiv registriert und verlangt vehement nach einer Lösung. Damit habe ich nicht gerechnet.
Mist! Was jetzt? Ich kann nicht mehr.
Also lasse ich alles liegen und begebe mich in meine sanfte Fastenwoche. Die wird’s richten. Antworten erhalte ich. Doch zu etwas ganz anderem. Zur Frage nämlich, worüber ich schreibe.
Die Einsicht ist schlagartig da. Sie steht vor meiner Nase. Ich hab’s schon tausendmal geschrieben und nicht kapiert. Am liebsten schreibe ich über willensstarke Menschen, die an einem schwierigen Punkt in ihrem Leben angekommen sind; wie sie Krisen meistern und Lösungen finden – wie sie Auswirkungen von Vergangenem auf deren Gegenwart verändern …
Wie ein Löffel fruchtiges Erdbeersorbet lasse ich mir diese Einsicht jetzt im Munde zergehen. Dann schlucke ich’s und lasse es durch mein frisch gereinigtes Verdauungssystem gleiten.
Einsicht schmeckt süss …
Ich entspanne und bin erleichtert. Ich sehe meinen entstehenden Roman genau in diesem Licht. Alles passt. Das Worüber war schon lange da. Nur war es unter Unrat verborgen. Und weil ich das nun habe, wird sich alles weitere danach richten. Gestärkt gehe ich in den Frühling …