Ruedi, pensionierter Chorleiter vom Jurasüdfuss, lässt den Zug mit allen Kompositionen losfahren und schaut ihm gedankenverloren nach, wie er sich durch die sehr lebendig wirkende Zwergenlandschaft schlängelt. Spaziergänger und Besucher bleiben oft bewundernd vor seiner Modelleisenbahn im Garten stehen, die er jahrelang mit viel Detailtreue aufgebaut hat. Das war seine stete Inspiration für seine geliebte Arbeit.
Nur einmal im Leben, denkt er jetzt wieder an seinen bisher unerfüllt gebliebenen Traum … Nur einmal … Nachdenklich bleibt er im Garten sitzen.
Kurze Zeit später sieht Ruedi, wie Pierre, sein langjähriger Freund, in den Garten kommt. Ein kleines Schmunzeln liegt auf dessen Gesicht, dann seufzt er und schaut Ruedi eine Weile an, bevor er sich zu ihm setzt.
«Was hast du denn auf dem Herzen, lieber Pierre? Ich hole uns ein Glas Wein. Lass uns den Abend geniessen.» … Und wie stets, plaudern sie über das Leben, dies und das, als Pierre auf einmal ankündigt:
„Du Ruedi hör mal. Morgen fahren wir nach Lausanne und machen uns einen tollen Tag. Ich hole dich um sieben Uhr ab.“ Ruedi ist sich die spleenigen Ideen seines Freundes so was von gewohnt und widerspricht nicht …
Als sie am anderen Morgen losfahren, strahlt die Sonne am wolkenlosen Himmel. Gemächlich fahren sie durch die Rebberge am Jurasüdfuss, machen einen Kaffeehalt im Greyerzerland. In Lausanne angekommen führt Pierre Ruedi direkt zum Bahnhof und auf das Geleise des TGV*.
„Was willst du hier?“, fragt Ruedi aufgeregt.
„Komm einfach mit!“, sagt Pierre und zieht den ahnungslosen Ruedi bis an die Spitze des TGV, wo Max, der Lokführer, den Führerstand verlässt. Pierre begrüsst ihn wie einen alten Bekannten.
„So Ruedi, jetzt kannst du einmal!“, sagt Pierre geheimnisvoll und übergibt Max einen Rucksack.
„Ja Ruedi, heute begleitest du mich im Cockpit dieses TGV nach Paris. Keine Angst …“, und zeigt ihm den Rucksack, „Wir haben alles organisiert! Pierre holt dich morgen hier wieder ab.“, sagte Max.
Sprachlos und mit angehaltenem Atem steigt Ruedi ins Cockpit und schaut mit kindlicher Freude im Gesicht auf die roten, gelben, grünen Knöpfe, Anzeigen und schwarzen Hebeln. „Ich fass es nicht! Das wird ein Nachspiel haben!“, ruft er hinaus zu Pierre, der winkend auf dem Geleise steht. Schon schliesst die Tür des Führerstands des TGV, der Zug startet und gleitet langsam aus dem Bahnhof …
Glossar:
Train à Grande Vitesse (TGV) – Hochgeschwindigkeitszug