Weihnachten mit Folgen

Der blaue Lieferwagen des Dorfmetzgers parkierte vor dem alten Bauernhaus. Der Fahrer stieg aus und öffnete weit die Hecktüre. Lena, die 18jährige junge Frau, stand vor der Haustür und erwartete ihn. Lächelnd und voller Tatendrang winkte sie ihn in die jetzt hell erleuchtete Küche. Er stellte den grossen, abgedeckten Warmhaltebehälter auf den gusseisernen Herd, holte drei Schüsseln fertigen Kartoffelsalat nach und stellte sie nebenan auf den Tisch. Lena bezahlte ihn und versicherte ihn, das Geschirr am ersten Arbeitstag nach Weihnachten zurückzubringen.

Dann war sie wieder alleine in der Küche, hob schnuppernd den Deckel des grossen Behälters an. Mmmhh, wie das duftete! Sie wedelte mit der Hand vor ihrer Nase. Da lag er, der Beinschinken im Brotteig, für den sie zuhause nicht den Ofen hatten, ihn zu backen. Es war Heiligabend und er würde das Weihnachtsessen für ihre Familie sein. Sie hatte ihrer Mutter offeriert, ihr das Kochen für diesen Abend abzunehmen. Der Beinschinken, das war die Überraschung! Lena hatte extra einen freien Tag genommen, sie machte die Lehre zur Köchin in einer grossen Restaurant-Küche.

Sie wünschte sich so sehr einmal ein friedliches Weihnachtsfest mit der Familie. Bisher erlebte sie diese nur mit zerstrittenen Eltern, die nicht einmal an Weihnachten mit ihrem Geschrei hinter dem Berg halten konnten. Sie dachte an die Geschenke, die sie stets bekam. Sie bekam nie einfach ein Geschenk, das ein Geschenk war. Es waren stets Geschenke zum Arbeiten. Sie wollte lieber auf alle Geschenke verzichten. Zusammen essen, lachen und reden, das war es, was sie jetzt vorhatte, und es war ihr Versuch.  

In Gedanken versunken deckte sie den Tisch in der Küche, legte Weihnachtsdekoration hin, was es so auch noch nie gab. Sie hatte alles vorbereitet. Getränke standen bereit, der Kartoffelsalat stand auf dem Tisch und ein Fleischbrett lag bereit, den Schinken aufzuschneiden, als ihre Mutter von der Stallarbeit ins Haus kam. Zusammen mit Lena’s jüngeren Geschwistern. Sie zogen sich um und stürmten lärmend in die Küche. Die Mutter trat in die Küche, sah sich stumm und fragend um. Ihr Mund war fest geschlossen, die Augen zugekniffen. Lena beobachtete sie mit grossen Augen und wartete auf ihre Reaktion. Ihr suchender Blick blieb am gedeckten Tisch hängen: «Hey,» und sie lächelte sogar ein wenig, sagte aber kein weiteres Wort. Lena atmete durch.

«Schau hier Muetti, da habe ich einen grossen Beinschinken im Teig. Den habt ihr doch so gerne – und das reicht auch bestimmt für ein zweites Mal.»

Die Mutter hob den Deckel ab, schaute wortlos einige Augenblicke hin und legte den Deckel wieder ab. Lena wurde es mulmig. «Freust du dich denn gar nicht?»

«Doch, es ist nur, du hättest etwas viel Günstigeres selber kochen können!»

Peng, klatschte es an Lena’s Ohren. Sie klappte innerlich zusammen. «Ich habe es ja offeriert, das weisst du doch, wir haben es so abgemacht. Damit du einmal weniger kochen musst.», rechtfertigte sich Lena. Sie presste ihre Lippen aufeinander. «Es ist wieder nicht recht.», flüsterte sie.

In der Zwischenzeit sassen ihre Geschwister schon am Tisch und klopften mit den Löffeln auf den Tisch: „Hunger, Hunger, Hunger.», schallte es im Chor.

Die Eingangstür öffnete sich erneut und ihr Vater trat ein. Ohne seine Stallstiefel auszuziehen trat er an den Tisch. Lena hatte inzwischen den Schinken aufgeschnitten, jetzt standen sie alle darum und schauten auf die Platte mit dem saftigen, dampfenden Schinken. Lena gefiel, was sie sah und im Moment stritt niemand an diesem Tisch. Sie hoffte, dass es so bliebe. Hatte ihre Idee geklappt? Alle setzten sich bis auf den Vater, der zu schnaufen begann. Lena sah es und es begann, in ihr zu kochen.

Nein, schrie sie stumm. Nicht! Der Vater schaute zu Lena hin, seine Augen wurden zu Schlitzen und blitzten, sein Mund verzog sich, und öffnete sich zu einem schwarzen Loch: «Pack das sofort weg! Hast du vergessen, woher du kommst? Was stellst du dir vor, wer du eigentlich bist? Hast du geglaubt, du könntest daherkommen und uns alle um den Finger wickeln? Damit? Keiner isst auch nur einen Bissen von diesem Tisch!», schrie er, schaute rundherum alle an und fuchtelte mit den Armen.

Lena war erstarrt. Geschockt! Sie brachte kein Wort aus sich heraus. Sie war fassungslos und verstand kein Wort. In ihr begann es zu toben, zu rumoren. Ihr wurde schwindlig und dann – stand sie auf: «Ich wollte etwas dazu beitragen, damit wir einmal eine friedliche Weihnacht erleben. Aber ihr seid so was von daneben. Beide. Lasst es euch schmecken. Ich hoffe, ihr verstickt an dem Essen!», schrie sie zurück.

Lena drehte sich um. Sie zog rasch ihre Winterstiefel an, legte sich zitternd ihren Schal um, zog den Mantel, ihre Kappe und Handschuhe an. Sie nahm ihre Handtasche, öffnete die Haustür, schletzte sie kräftig zu und verschwand in der Dunkelheit der Nacht. Tränen der Wut und der Enttäuschung liefen ihr übers Gesicht. Es war saukalt und die Tränen gefroren auf ihren Wangen. Sie bemerkte es nicht. Wütend und enttäuscht stapfte sie die schneebedeckte Strasse hinunter in Richtung Dorf. Es knirschte unter ihren Schuhen, der Himmel war offen über ihr, die ersten Sternen schimmerten. Das alles nahm Lena nicht wahr. Im Dorf nahm sie den nächsten Bus in die Stadt. In ihrem Zimmer angekommen, legte sie sich hilflos und verloren auf ihr Bett und schluchzte. Ein friedliches Weihnachtsfest mit Essen, Lachen, Reden – Zusammensein. Nur einmal im Leben wünschte sie sich das. Doch – es war auch diesmal gründlich schiefgegangen. Es ging so was von gründlich schief! Sie würde nie mehr versuchen, in ihrer Familie etwas Gutes zu tun. Sie sahen es nicht und schätzten nichts. Es hatte keinen Wert für sie …

Als ihr Schluchzen leiser wurde und abebbte, erinnerte sie sich, dass einige Kolleginnen und Kollegen von der Arbeit eine Waldweihnacht in der Nähe organisiert hatten. Sie wollten Lena auch dabei haben, aber sie sagte ab, weil sie den anderen Plan hatte. Sie wusch sich das Gesicht. Ihre Verzweiflung wandelte sich in neue Hoffnung. Sie zog sich um und stapfte los. Das Weihnachtsfest im Wald war schon im Gange als sie ankam. Sie hörte fröhliches Lachen und Reden. Sie nahmen sie einfach in ihre Mitte und nachdem sie erzählt hatte, was passiert war, sagte eine ihrer Kolleginnen: «Sie sind es nicht wert, dass du für sie auch nur einen Finger rührst. Lass sie, wo sie sind, du bist bei uns besser aufgehoben.»

Lena stand am Feuer und wärmte sich auf. Hielt einen Becher Glühwein in den Händen. Ja, dachte sie. Freunde, Kollegen, ein Feuer, Glühwein – und aus dem grossen Topf über dem Feuer dampfte das Essen. So geht Weihnachten!

Sie lächelte bei dem Gedanken daran, dass sich ihre Eltern zuhause buchstäblich zerfleischten …