Tilli wünschte sich eine andere Familie für sich. «So wie bei Esther zuhause. So eine möchte ich … Die sitzen friedlich am Mittagstisch, sind freundlich und keiner schreit … oder so wie bei Agnes, da ist alles sauber und es riecht immer so gut.», redete Tilli vor sich hin.
Bei ihnen war alles ganz anders. Die 11-jährige Tilli lebte mit ihren Eltern und den mittlerweile acht Geschwistern auf einem dreckigen, stinkenden, unaufgeräumten und uralten Bauernhof in der Innerschweiz. Vati war oft zornig, tobte und schlug drein. Lief Muetti mit einem dicken Bauch herum und das war bis jetzt fast ständig der Fall, weinte sie oft und jammerte. Beide schrien sich ständig an. Sagte Tilli etwas, war es gut möglich, dass sie etwas Falsches sagte, dann schimpften sie oder schrien sie an. Tilli wusste nie, was kam und warum.
Als sie mit sechseinhalb Jahren das erste Mal zur Schule ging, blickte sie verschüchtert und mit zusammengezogenen Augenbrauen in die Welt. Die Schule gefiel ihr, sie lernte schnell, saugte gierig alles auf. Zuhause half sie Muetti im Haushalt: Geschirr abtrocknen, den Küchenboden aufwischen mit einem Besen, der doppelt so gross war wie sie. Einmal die Woche schrubbte sie den Boden mit Wasser vom eingetrockneten Kuhmist frei, den Vati und die Brüder mit ihren Dreckstiefeln hereintrugen. Sie fütterte die kleinen Geschwister. Die gebrauchten Stoffwindeln wusch sie aus, die auf dem Balkon in einem stinkenden Kübel Wasser schwammen. Schuhe putzen auf dem Balkon oder den Holzboden in der Stube wienern … Muetti sagte: „Als Älteste bist du ein Vorbild für die anderen.“
Und so brachte Tilli nebenbei vier Schulklassen hinter sich. Der Lehrer der dritten und vierten Klasse besass eine Rute, mit der er dreinschlug, sobald ihm etwas nicht passte oder wenn jemand die Schulaufgaben nicht machte. Tilli begriff, sie musste dafür sorgen, dass sie keine Schläge auf ihre Hände bekam. Denn dafür war die Rute gedacht. Doch Hausaufgaben machen und Lernen war ein Problem. Kaum aus der Schule, sagte Muetti: „Stell deinen Schulranzen in die Stube, deine Schularbeiten kannst du machen, wenn alles andere fertig und erledigt ist.“ Tilli erledigte die Hausaufgaben nach dem Abendessen und dem Abwasch, wenn die anderen bereits schlafen gingen.
Morgens stand sie um fünf Uhr auf und half jetzt im Stall oder in der Küche mit, weil sie alt genug dafür sei. Tilli hasste die Arbeit im Stall, weil sie in der Schule stank, alleine war und gehänselt wurde. Und seit ihre neuen Zwillingsgeschwister Renate und Beat da waren, hatte Tilli eine Menge zusätzliche Arbeit.
Sie wechselte in die fünfte und war jetzt in der sechsten Klasse. Der Lehrer dieser beiden Klassen las oft Geschichten vor. Das war wie im Märchen. Denn zuhause kam das nicht vor und durfte sie nicht lesen, aber immer mehr im Stall, auf dem Feld, im Garten und in der Werkstatt mitanpacken. Sie las trotzdem. Nachts unter der Bettdecke.
Und alles, was sie auf dem Hof erlebte, mochte sie nicht. „Warum sind die Eltern überhaupt Bauern geworden, wenn sie es doch nicht gerne machen und sie mich dafür arbeiten lassen?“, fragte sie sich jeden Tag. Die schwere Arbeit, im Dreck und im Winter in der Kälte, bewältigte sie körperlich kaum. Und in der Zwischenzeit tollten die Brüder herum. Tilli spürte ihre Hände und Füsse nicht vor Kälte, wenn sie im eisigkalten Wasser Lauch oder im zugigen Tenn Zwiebeln putzte. Im Haushalt kochte sie, machte die Betten und putzte. Tilli arbeitete wie eine Magd! «Du bist die Älteste und musst Vorbild sein für die Kleineren», sagte Muetti.
„Was ist ein Vorbild?“
„Ach, sei einfach still und hör auf zu reden…!“
Diesen Frühling kam Teresa als neuntes Kind auf die Welt und während Muetti zwei Monate lang im Spital blieb, musste Tilli Vorbild sein und oft für die ganze Familie den Haushalt führen, wenn keiner von den Verwandten half. Sie war verzweifelt und sass oft oben auf dem Hügel, an ihrem Lieblingsplatz.
Sie ging gerne in die Handarbeitsschule, liebte die vielen Farben der Wolle und Stoffe. Sie besuchte Muetti im Spital: «Schau, was ich selbst genäht habe», sagte sie und hielt ihr voller Stolz den Brotsack aus grün und blau gestreiftem Stoff hin. Muetti sah ihn nicht einmal an. Sie redete nur darüber, was Tilli noch alles tun musste. Tilli sackte zusammen und verkniff das Weinen. „Warum sieht Muetti nicht, was ich schon nähen kann?“, fragte sie sich voller Kummer. Der Brotsack verschwand.
Im Sommer sehnte sich Tilli danach, einmal mit Schulkolleginnen zu spielen. Das durfte sie noch nie. An einem schulfreien Nachmittag lud sie Esther ein vom Nachbarhof. Muetti und Vati tobten. Esther kam und statt spielen musste sie im Garten mitanpacken. «Nein, ich will nicht, dass andere herkommen und schuften müssen», dachte sie den ganzen Nachmittag und schämte sich. „Was Dorli wohl über mich denkt?“ Sie erfuhr es nie. „Ich werde nie wieder jemanden nach Hause bringen“, schwor sie sich.
Einmal, als es auf dem Weg von der Schule nach Hause regnete, ersetzte sie den fehlenden Regenschirm mit ihren Haaren. Sie öffnete ihr langes, zum Pferdeschwanz gebundenes Haar und legte es sich um den Kopf und die Schultern. So kam sie nach Hause und fand Muetti im Stall. Die erblickte sie und schrie Tilli an und – sie hatte nicht einmal die Zeit, ihren Mund aufzumachen. Sie sah nur die zornigen Augen hinter der dicken Brille und die dicken Augenbrauen wippten. Sie sah den grossen, laut schreienden Mund – wie der ihr verbot, so was wieder zu tun. Tilli erschrak zutiefst, stand bockstill da. „Was habe ich jetzt schon wieder falsch gemacht?“, schoss es ihr erschrocken durch den Kopf. Sie sah nur diese böse, schreiende Frau, wie sie mit der Grasgabel herumfuchtelte.
Dann kam der Tag, an dem Tilli im Garten neben dem Haus arbeitete, als sie Jürg schreien hörte. Sie lief los und als sie in der Scheune ankam, ihre Brüder erblickte, wusste sie nicht was tun. Heinz und Markus standen starr vor Schrecken da und Jürg schrie mit der blutenden Hand und zwei Finger weniger dran. «Was habt ihr gemacht?», schrie sie voller Entsetzen.
«Wir haben mit der Axt Holz hacken gespielt, er hat seine Hand auf den Holzbock gehalten.» riefen Markus und Heinz kleinlaut.
Sie lief ins Haus: »Muetti!», schrie sie durch das Haus, «Jürg’s Hand blutet, sie haben ihm zwei Finger abgehackt!» Aber Muetti antwortete nicht, liess sich nicht blicken – aber sie war doch da! Till rannte hinaus und rief nach Grosi, die sofort den Kopf aus dem Fenster des Nachbarhauses streckte, erzählte, was passiert war und Kasper, einer ihrer Söhne kam sofort gelaufen. „Jürg – seine Finger – wir müssen verbinden – zum Arzt! Ich weiss nicht, was mit Muetti ist, sie kommt nicht raus!“, stammelte ihm Tilli weinend entgegen.
„Warte hier, ich schau nach.“
Aber sie lief mit ihm ins Haus und hörte ihn rufen: „Erna, mach, dass du rauskommst! Dein Sohn hatte einen Unfall, er muss dringend zum Arzt!“
Und Tilli schaute zu, wie Muetti vor dem Spiegel stand, sich frisierte und sagte: „Ich weiss gar nicht, was ich anziehen soll.“
Kasper schrie: „Du kommst jetzt mit. Es ist jetzt wirklich egal, was du für Fetzen am Leib trägst. Dein Sohn verblutet uns!“
Er holte Jürg in der Scheune ab und dann fuhren sie weg mit ihm und den beiden abgetrennten Fingern im Taschentuch. Die Ärzte konnten sie wieder annähen und sie wuchsen zusammen. Jürg musste sehr, sehr lange ins Spital zur Therapie. Muetti begleitete ihn nie. Aber Tilli …
Tilli hatte den Kopf voller Fragen und niemanden, mit dem sie reden konnte. Getraute sie sich, Muetti eine Frage zu stellen, bekam sie die Antwort: „Ach, sei einfach still und hör auf zu reden…!“ Vati getraute sie nicht zu fragen aus Angst, dass er gerade wieder zornig war und dreinschlug. Das war etwas, das sie fürchtete wie die Pest. Seine Schläge. Tilli konnte Glück haben und er war mal guter Laune, aber genauso gut war es das Gegenteil.
Sie hörte auf zu reden, lernte genau zu beobachten und merkte, wenn sie in den entscheidenden Dingen genau das tat, was er oder Muetti wollten, blieb sie von den Schlägen verschont.
Auch erklärte ihr nie jemand, wie etwas ging. Sie musste immer alles können und wissen. «Was ist eigentlich ein Vorbild?» Während die Geschwister herumtollten, stand Tilli daneben und schaute zu. «Ein Vorbild ist, wenn ich dastehe und zuschaue. Nicht mitmachen. Arbeiten. Meine Schwestern spielen mit Puppen, ich aber versorge wie eine Mutter Kinder, die mir gar nicht gehorchen. Und das ist dann auch noch meine Schuld.», verstand Tilli auf einmal.
In ihrer Verzweiflung verzog sie sich immer öfter in die vielen Ecken der Natur. Da war sie alleine, kein Geschrei, frei und sie liess den Phantasien und Gedanken freien Lauf. Sie weinte viel oder rief schluchzend ihre Sorgen in die Welt hinaus, danach war ihr immer wohler. Sie redete laut vor sich hin und erhielt Antworten ohne zu wissen, mit wem sie redete. Sie beobachtete die Natur. «Es gäbe viel weniger Probleme, wenn die Menschen sich wie die Natur benehmen würden. Es wäre so einfach! Doch sie machen alles kompliziert und schwierig, immer ist alles durcheinander“, realisierte sie eines Tages. Sie lernte noch etwas: «Die Natur ist immer gleich. Alles dreht sich im Kreis und kommt wieder, wie die Jahreszeiten.» Tilli verliess sich voll und ganz auf sie, vertraute ihr ihre Geheimnisse und ihr Leben an. Das funktionierte nicht bei den Menschen.
Da sass sie oben bei dem alten Viehunterstand auf dem Hügel mit ihren elf Jahren und fünf Monaten, und wünschte sich, sie hätte eine andere Familie. Sie wollte weg von diesem Ort, wusste aber auch, dass sie nirgendwohin gehen konnte. «Wie kann ich denn überleben? Ich habe ja kein Geld und die Polizei würde mich schnell finden und wieder zurückbringen. Dann wäre alles noch schlimmer. Ich muss warten, bis ich alt genug bin. Wie halte ich das nur so lange aus?»
Das Lied. Das Lied, das sie in der Schule lernten: „Die Gedanken sind frei und niemand kann sie verwehren…“. Sie konnten ihr alles nehmen und das taten sie auch. „Meine Gedanken, die können sie mir niemals nehmen, sie sehen sie gar nicht.“ Tilli lächelte: „Ich darf denken, was ich will.“
Sie flüchtete sich in ihre Gedankenwelt, die Bücher und in die Natur …