Es war an einem Sommertag im Jahre 1348. Die Sonne brannte vom wolkenlos blauen Himmel. Um die Mittagszeit stand Francesca im Schatten eines der uralten Olivenbäume, die zu dem Bauerngut in der Umgebung von Florenz gehörten, wo sie jetzt mit ihren Eltern lebte. Das erste Mal nach ihrer Krankheit hatte sie Lust, hinaus zu gehen und zu malen. Bei ihrem Lieblingsbaum stellte sie ihre Malstaffel auf, da stand auch eine steinerne Bank zum Verweilen.
Zwei Monate zuvor war Francesca, die junge Tochter eines wohlhabenden Tuchhändlers, mit ihren Eltern vor dem schwarzen Tod und der Hungersnot aus Florenz geflüchtet, die seit einem Jahr die Stadt heimsuchten. Viele Menschen, darunter auch die Familie ihrer besten Freundin Giulia, versuchten jetzt, jede Minute ihres Lebens mit Feiern, Tanzen und Musik auszukosten, weil sie glaubten, damit den Schwarzen Tod austricksen zu können. Ihre Eltern hatten es vorgezogen, ihr Stadthaus zu verlassen und in ihr Landhaus zu ziehen. Als sie ankamen, fanden sie es verwüstet und abgebrannt vor. Nur die Ruinen standen noch da. Noch nie hatte sie ihre Eltern derart fassungslos und geschockt gesehen. Und hier auf dem Hof ihrer hörigen Bauern fanden sie Unterschlupf. Wie viele Goldtaler ihr Vater dafür bezahlt hatte, wusste sie nicht. Der Lehensbauer bebaute das Land zu seinem eigenen Nutzen. Dafür hatte er Frondienste für ihre Familie geleistet und ihnen Lebensmittel geliefert, wenn sie sich in ihrem Landhaus aufhielten. Francesca lernte früh reiten und ihr stand jederzeit ein Pferd zur Verfügung.
Eine Woche nach ihrem Einzug lag Francesca mit hohem Fieber und einem geschwollenen Hals in ihrer Kammer. Ihre Eltern verliessen das kleine Häuschen, das ihnen der Bauer überlassen hatte, nicht mehr. Sie waren überzeugt, der Schwarze Tod hätte ihre einzige Tochter getroffen und hatten panische Angst, die Menschen anzustecken, die sie aufgenommen hatten und vertrieben zu werden. Ihrem Vater war es gelungen, dem Bauern eine Nachricht zukommen zu lassen, damit der sich mit seiner Familie von ihnen fernhalte.
Doch der Bauer und seine Frau hatten ihnen täglich frische Nahrung wie Getreide, etwas Gemüse, Milch, Eier und frisches Wasser, manchmal auch einen Topf fertige Brühe vor die Tür gestellt. Ihre Eltern pflegten sie Tag und Nacht, während sie um ihr Leben kämpfte. Sie überlebte die Krankheit. Es war auch nicht, wie sie es von den Menschen in Florenz kannte. Sie hatte keine schwarzen Beulen und keine Gliederschmerzen bekommen und sie spuckte kein Blut, konnte aber nichts essen. Es war wohl eine leichte Form dieser wütenden Krankheit oder einfach eine Erkältung. Sie wusste jetzt nur, im Moment war sie sicher, konnte aber jederzeit wieder krank werden und fühlte sich noch ziemlich schwach auf den Beinen. Doch der Olivenhain, die Sonne, die durch die Äste flackerte, das Vogelgezwitscher, der leichte Wind und die Erde gaben ihr wieder Kraft und neuen Mut.
„Haben Sie die Krankheit also überstanden, Signorina?“, hörte sie auf einmal eine männliche Stimme.
Etwas verwirrt blickte sie auf, direkt in die dunklen Augen des jungen Mannes auf der anderen Seite des Olivenbaumes. Sie schaute ihn gebannt an. Barfuss und breitbeinig stand er da, wie eine Erscheinung, die Arme in die Hüfte gestemmt, in sicherem Abstand zu ihr. Drahtig und harte Arbeit gewohnt. Er sieht unverschämt gut aus, dachte sie und erinnerte sich an den einen Tag, bevor sie krank wurde und reiten ging. Sie entdeckte auf dem Weg diesen dunkelhaarigen, jungen Mann, der auf dem Weizenfeld arbeitete. Sie war stehen geblieben und hatte ihn beobachtet. Er trug eine braune Tuchhose und ein helles Hemd, was seine kräftige Statur erahnen liess. Sie ermahnte sich weiterzureiten, bevor sie auffiel.
„Ja, ich bin wieder gesund.“, antwortete Francesca lächelnd. „Aber wer will das wissen?“
„Ich bin Antonio.“, sagte er, verbeugte sich belustigt und schwenkte dabei den Arm nach aussen. „Ich bin der älteste Sohn von Carla und Giuliano, denen dieser Hof hier gehört.“
Was? Das ist der Junge, den ich einmal von unserem Garten aus gesehen habe, fragte sie sich erstaunt. Denn seit diesem einen Mal hatte sie ihn nie wieder gesehen.
„Oh, ja, die kenne ich. Meine Eltern haben mir erzählt, wie Ihre Familie die letzten Wochen Essen vor unsere Tür gestellt hat.“
„Ja. Meine Mutter sagt, dass gutes Essen und Brühen bei dieser fürchterlichen Krankheit oft helfen würden, besser als jeder Aderlass. Sie hatte wohl recht, denn Sie leben.“
„Und ich weiss nicht, wie ich Ihrer Familie das je danken kann. Ohne Euch stünde ich jetzt wohl nicht hier. Trotz des wenigen Essens habt ihr es mit uns geteilt.“, seufzte Francesca ergeben.
„Sie müssen jetzt einfach gesund bleiben.“, sagte er amüsiert.
Francesca setzte sich neben ihrer Malstaffel auf die Bank, kramte in ihrer Tasche und entnahm ihr Brot und Käse. „Wollen Sie davon haben? Ich teile es gerne, weil, ich mag noch nicht so viel essen.“
Antonio schüttelte den Kopf, nahm sein eigenes eingepacktes Mittagsbrot aus seiner Umhängetasche, setzte sich stumm ins trockene Gras, da wo er gestanden hatte. Schweigend assen sie. Francesca musterte ihn mit verstohlenen Blicken: Sein dunkles, langes Haar war im Nacken gebunden, das von der Arbeit schweissnasse Hemd klebte an seinem Oberkörper und seine Hände waren schmutzig von der Feldarbeit. Er ist kräftiger gebaut, als er auf den ersten Blick scheint. Und wenn sie wegschaute, spürte sie seine Blicke auf sich.
„Arbeiten Sie immer auf dem Hof?“, fragte sie kauend.
„Nein. Ich habe in Florenz gearbeitet und bin nach Hause gekommen, als die Hungersnot und die Krankheit ausbrach.“
„Was haben Sie dort gemacht?“
„Ich bin Wollweber“, sagte er mit einem trotzigen Ton in der Stimme.
Ah! Sie schaute auf. Er sass da mit erhobenem Kopf, sah sie prüfend an und seine Augenbrauen hatten sich zusammengezogen. Es sah aus, als wollte er sie testen.
Francesca wurde sich auf einmal ihrer Unterschiede sehr bewusst. Er war ja der Sohn ihres hörigen Bauern. Sie hatte ihn nicht gleich wieder erkannt. Und dass er Wollweber war, hatte sie nicht gewusst. Und sie – sie war die Tochter eines reichen Kaufmannes und hatte bisher ein behütetes Leben. Bevor sie flüchteten, hatte sie aber auch davon gehört, wie sich in Florenz die Wollweber gegen die Herrschaft der Kaufleute aufgelehnt hatten. Dann kamen Hungersnot und der schwarze Tod und das Leben kam zum Erliegen. Nichts hatte mehr funktioniert, weil die Arbeiter geflüchtet waren.
„Werden Sie wieder zurückgehen?“, fragte sie ihn.
„Ja. Wenn alles vorbei ist. Ich werde mein eigenes Geschäft gründen. Ich habe Pläne … Aber jetzt helfe ich meinem Vater, Weizen anzubauen. Sauberes Getreide, das wir verkaufen können. Weizen ist knapp und was mit den Schiffen zu uns kommt, macht die Menschen krank.“
…