Katja eilt durch den Haupteingang des modernen Bürogebäudes zum Lift. Ausgerechnet heute hatte sie verschlafen, danach verpasste sie auch noch den Bus. Das Vorstellungsgespräch auf später an diesem Vormittag verschieben war einfach.
Das hat sie ein wenig gewundert.
Sie entschied sich, ein Taxi zu nehmen, das zu guter Letzt aber an ihr vorbeifuhr, statt sie mitzunehmen und spritzte sie mit Wasser voll. Ihr Mantel und ihre Hose sind klatschnass. Wirklich alles, was schieflaufen kann, ist an diesem Morgen schiefgelaufen.
Der Aufzug bringt sie in den vierten Stock, wo die Sekretärin ihr den pitschnassen, roten Mantel mit ihren Fingerspitzen abnimmt und an die Garderobe hängt.
„Herr Diedrich erwartet Sie bereits“, sagt sie, als sie die Tür zu seinem Büro öffnet und sie hereinführt. Etwas an dem Namen irritiert Katja. Karl Diedrich sitzt an seinem mit Papieren übersäten Schreibtisch und die 28-jährige Katja erkennt ihn sofort. Das ist doch …
„Du?“, ruft Katja fassungslos.
Karl schaut bei ihrem Eintreten auf, erhebt sich und sein Blick gleitet über sie: „Kaum zu glauben, wie du dich verändert hast. Ich freu mich auch, dich zu sehen.“, sagt er schmunzelnd.
„Hätte ich gewusst, dass du der Personalchef bist, ich wäre wohl niemals gekommen!“, sagt sie verärgert.
Katja erinnert sich an den schrecklichsten Abend ihres bisherigen Lebens: den Abi-Ball. Karl hatte versprochen, ihr Tanzpartner zu sein. Doch als sie an diesem Abend ankam, tanzte er mit Annie, dieser reichen, verwöhnten Göre. Nach all der Zeit, die sie ihm Nachhilfe gegeben und er sie als seine Freundin ausgegeben hatte, blamierte er sie so offen vor ihren Freundinnen. Wie vom Blitz getroffen kapierte sie aber auch, dass sie eifersüchtig war und verliess fluchtartig den Ball.
Sie ärgerte sich über sich selber. Der Abi-Ball sollte ihre schönste Erinnerung an diese Zeit werden, nun bliebe er ihr auf ewig als der schrecklichste Ort ihres bisherigen Lebens. Sie hatte sich so was von blamiert. Sie hoffte nur, dass sie sich mit ihren Gefühlen nicht verraten hatte.
Karl lacht: „Als ich dein Dossier in den Händen hielt, habe ich dich gleich erkannt und liess die Korrespondenz von der Sekretärin erledigen. Und ehrlich, ich kann jetzt kein Bewerbungsgespräch mit dir führen. Gehen wir doch ins Café nebenan und reden.“, schlägt er vor.
Katja schluckt. „Okay“, sagt sie verwundert.
Im Café Gourmandise erzählt Karl: „Du hast die Zustände gekannt mit meiner kranken Mutter und ihrem alkoholsüchtigen Freund und mit der Gang. Weshalb ich keine Hausaufgaben machte.“
„Ja, ich erinnere mich sehr gut. Du gabst mich da als deine Freundin aus.“
„Ja, du warst mein Rettungsanker gegenüber der Gang.“
Karl erzählt ihr von dem Traum von damals, aus dem Milieu rauszukommen und ein besseres Leben aufzubauen. Als Annie an diesem Abend beim Ball aufgekreuzt sei, hätte er schon vorgefeiert und einige Drinks gehabt. Sie habe sich an ihn gehängt und er ein wenig vom Duft des Reichtums genossen, von dem er träumte. „Ich habe dich auch gesehen und wollte dich holen, sobald ich Annie losgeworden war. Aber du warst unauffindbar und als ich später mit dir reden wollte, bliebst du verschwunden. Und jetzt, halte ich dein Dossier in meinen Händen.“
„Warum hast du mich kommen lassen?“
„Um mich zu entschuldigen. Ohne deine Hilfe hätte ich es damals nicht geschafft, die Gang hätte mich aufgesogen. Ich wäre heute nicht da, wo ich bin.“ Er lächelt reumütig. „Nimmst du meine Entschuldigung an?“
So schnell gehe ich ihm nicht auf den Leim, denkt Katja. Mal sehen, ob er es wirklich ernst meint. Sie erinnert sich an ihre Zeit nach dem Ball, weit weg von zuhause. Es tat alles so weh, sie schämte sich und dazu hatte sie sich so was von blamiert …
Und jetzt war sie hier, weil sie diesen Job wollte.
„Ich habe geglaubt, ich gehe heute mit meinem Traumjob nach Hause. Nun sitze ich mit dir hier.“
„Ich werde dich direkt für ein Gespräch in die Abteilung einladen, für die du dich beworben hast. Dann bekommst du dort die Chance, die du verdient hast. Das ist, was ich für dich tun kann.“
Katja lehnt sich zurück, schaut ihn an und lächelt: „Okay, das ist fair. Hiermit ist deine Entschuldigung angenommen.“ …