Sie fährt an dem schmalen Flussbett entlang, und nach und nach enthüllt sich die vermüllte Landschaft: umgekippte Eimer an der Biegung des Flusses, ein kaputter, unkrautüberwucherter Kinderwagen, ein Benzinfass, das eine trockene Zunge aus Rost herausstreckt, der Kadaver eines Kühlschranks in den Brombeersträuchern. Erschüttert hält sie nach der kleinen Brücke an und steigt vom Fahrrad.
In ihrer Erinnerung wurde hier im Sommer am Fluss gebadet, gesonnt, gegrillt, Kinder spielten. Blühendes Leben. Damals lebte sie mit ihrem Ehemann weiter unten im Tal.
Angeekelt schaut sie auf den ganzen Müll und schüttelt ungläubig den Kopf. Wohin ist dieses Leben verschwunden? Trotz des sonnigen
Tages wirkt die Landschaft düster. Ihr Blick gleitet zum Fluss. Etwas blitzt auf in der Sonne, wie Morsezeichen. Verwundert stellt sie das Fahrrad auf dem kleinen Parkplatz ab und steigt den Abhang hinunter zur Stelle, wo Geröll und Steine die Querung des Flusses ermöglichen. Sie steigt hinüber zur Mitte des Flusses, wo das geheimnisvolle Blitzen sie anzieht. Noch zwei Schritte, dann ist sie da. Eine Flasche liegt halb im Wasser, als wäre es kühl gestellter Weisswein, der nur darauf wartet, endlich abgeholt zu werden. Sie hockt sich hin und schaut die verschlossene, etikettenlose Flasche aus klarem Glas an. Lächelnd erinnert sie sich an eine Wanderung in den Hügeln der Vogesen, wo sie und ihr Ehemann auf eine Feuerstelle stiessen und warme Glut vom Feuer und Fest am Vorabend zeugte. Sie fanden eine zurückgelassene Flasche Rotwein, damals das krönende Element ihres Picknicks. Und jetzt findet sie hier diese verschlossene Flasche im Wasser, festgehalten von Steinen. Die Flasche ist nicht leer. Papier? Voller Neugier berührt sie die Flasche und versucht sie zu bewegen. Sie steckt fest. Sie entfernt die Steine und hebt sie mit beiden Händen hoch.
Sie dreht und wendet die Flasche, wischt restlichen Dreck weg, der das Glas trübt, und zuckt zusammen. Zwei Wörter werden lesbar:
„Für Lena!“, steht da.
„Was? Für mich?“, ruft sie laut aus. Eine Täuschung? Sie dreht sich langsam um sich selbst. Ist da jemand? Jemand in der Nähe? Jemand, der sie verschaukelt? Die Landschaft und der Fahrradweg liegen verlassen da. Doch sie steht mitten im Fluss, in der Hand eine an sie adressierte Flaschenpost. „Träume ich?“ Sie schaut genau hin. Betrachtet die Handschrift, in der die beiden Wörter geschrieben wurden: „Diese Handschrift kenne ich doch?“ Mit der Flasche in der Hand geht sie zurück ans Ufer und setzt sich auf einen grossen, flachen Stein. Kurzentschlossen schlägt sie die Flasche über die Steinkante und hält nur noch deren gezackten Hals in der Hand. Sie lässt ihn fallen und bückt sich nach dem zusammengerollten Papier in den Scherben. „Ich werde herausfinden, ob die Nachricht für mich bestimmt ist“. Sie faltet das feste Papier auseinander und liest bestürzt den Text:
„Verzeih mir! Reto.“
Erstarrt sitzt sie auf dem Stein. Diese Worte … dieser Name … Die Welt hört auf, sich zu drehen, es wird unheimlich geräuschlos. „Das ist ein Fake, das kommt nur in Filmen vor, in Geschichten von anderen und nur am Meer“. Sie atmet kaum. Reto?
So hiess ihr vor fünf Jahren verstorbener Ex-Ehemann. Wieder und wieder liest sie die Worte. Die Worte eines Toten? Wolken schieben sich vor die Sonne, ein leichter Wind kommt auf und lässt sie frösteln. Es ist, als hätte sie einen Geist aus der Flasche befreit, denn die vermüllte Landschaft wirkt umso düsterer. Mit einem beklemmenden Gefühl in der Brust sitzt sie da. Die Worte berühren etwas tief in ihr: So lange ist es her, so viele Verletzungen, so viel Schmerz und Leid, jahrelang. Vor 19 Jahren beendete sie die Farce ihrer Ehe. Nach der Trennung wohnte ihr Ehemann einige Dörfer weiter oben im Tal, nicht weit weg von hier, bevor er nach der Scheidung zu seiner neuen Freundin zog. Sie selbst verliess das Tal vor 14 Jahren. Sie brauchte lange, diese Geschichte zu verstehen und ihr Gleichgewicht wieder zu finden. Sie hat verziehen, losgelassen und ist in ihrem Leben weiter gegangen. Vor fünf Jahren erfuhr sie von seinem langen Sterben, nahm Abschied. Doch was für eine Station ist das jetzt? Reto war im Leben ein schweigsamer, überaus introvertierter Mensch und kam nicht aus seiner Reserve heraus. Er übernahm nie die Verantwortung für seinen Anteil am Scheitern ihrer Ehe. Er war aber dankbar, dass sie, Lena, eine friedliche Scheidung ermöglichte (…).
Fünf Jahre nach seinem Tod bringt ein unerklärliches Bedürfnis Lena in dieses Tal zurück. Genau hierher, um 19 Jahre nach ihrer Trennung eine feststeckende Flaschenpost zu finden. Eine Entschuldigung. Per Flaschenpost. Sie atmet tief ein, und zischend wie eine Schlange aus. In ihrer Brust ploppt es. Auf einmal ist die Sonne zurück, die Wolken ziehen weiter und der Wind ist still. Die vermüllte Landschaft liegt wieder im Sonnenschein. „Es ist höchste Zeit, diesen Müll endgültig zu beseitigen!“ Sie sammelt die Glasscherben auf und entsorgt sie im nahen Kehrichteimer. Aus ihrer Tasche im Velokorb holt sie Zündhölzer hervor, die sie stets mit sich trägt und kehrt zurück zum Stein am Fluss. Sie nimmt das Papier, zündet es an der einen Ecke an, beobachtet, wie die Flammen es verkohlen, wie kleine Papierfetzen ins Wasser fallen; dann lässt sie ganz los. „Es gibt nichts zu Verzeihen.“ Sie sieht ihn vor ihren Augen stehend, ein Lächeln um den Mund; es erreicht seine Augen jedoch nicht. Das Bild verblasst.
Nach einer Weile fährt sie zurück nach Hause. Dankbar. Sie hat nie wieder das Bedürfnis, ins Tal zu fahren.